Tradition und Hokuspokus

Der Atheist Richard Dawkins, der zwar kein besonders begabter Philosoph, dafür ein ausgezeichneter Biologe ist, ist unter anderem bekannt für seine populärwissenschaftlichen Bücher und die Prägung des Begriffs Mem.

In seiner im September 2013 erschienenen Autobiographie „An Appetite for Wonder: The Making of a Scientist“ fand ich eine spannende Anekdote über die Kindheit Dawkins’.

Mit sieben Jahren wurde er von seinen anglikanischen Eltern auf ein Internat geschickt. Dawkins berichtet von einem Abendritual, dass ihm aus dieser Zeit im Gedächtnis geblieben ist:

Jeden Abend mussten wir im Schlafsaal auf unseren Betten knien und dann war immer einer damit dran, das Abendgebet zu sprechen:

Erleuchte unsere Düsterkeit, wir flehen zu dir, oh Herr; und mit dein groß Gnad verfecht’ uns von all der Nacht Bedrängnis und Gefahr. Amen.

Niemand von uns hatte es je geschrieben gesehen, und wir wussten nicht, was es bedeutet. Wir guckten es Abend für Abend wie Papageien von einander ab, und mit der Zeit entwickelten sich die Worte in verdrehten Unsinn. […] Weil uns viele der Begriffe des Gebets unbekannt waren, konnten wir nur ihren phonetischen Klang imitieren. Das Ergebnis war eine hohe ,Mutationsrate’ dieser von Kind zu Kind übernommenen Imitation.

In dieser Geschichte konnte ich mich wiederfinden. Ich bin erst als junger Mann in die evangelische Kirche gekommen. Deshalb hatte ich nie den „Text“ der liturgischen Gottesdienstgesänge gelernt – ich lernte nur durch zuhören und imitieren der Anderen. Da kam es auch vor, dass ich Sachen falsch verstand. Zum Beispiel wunderte ich mich lange über die letzte Zeile des (sächsischen) Gloria in excelsis (nach der ersten Strophe von EG 179), welche ich so verstanden hatte: „All’ Fried hat nun ein Ende.“ Knapp daneben.

Zu Zeiten, als die Liturgie noch auf Latein gehalten wurde, muss das noch schlimmer gewesen sein. Wenn der Priester zum Abendmahl die Hostie hob und sprach: „Hoc est enim corpus meum“ konnten die wenigsten Gottesdienstbesucher die lateinischen Worte verstehen – die Bedeutung der Worte ging im Volksmund verloren. Übrig blieb nur das nachgemurmelte Hokuspokus.

Die Erhaltung von Traditionen und Althergebrachtem ist wichtig, damit wir nicht vergessen, wo wir herkommen. Aber sie darf nicht auf Kosten der dahinterliegenden Bedeutung gehen. Deshalb haben wir eine deutsche Liturgie und deshalb begrüße ich zum Beispiel auch die geplante Neuauflage der Lutherübersetzung, die zwar den altbekannten Wortlaut achtet, aber doch da modernisiert, wo veraltete Formulierungen die eigentliche Bedeutung einer Stelle zu verschleiern drohen. Nur so können wir mit unseren Traditionen auch ihre Bedeutung für die Zukunft erhalten.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf theologiestudierende.de.