Kritische Bibelkritik
Kritik. Das Wort hat in der Regel eine negative Konnotation. Ein „Kritiker“ ist dem allgemeinen Sprachgebrauch nach gegen die Sache, die er kritisiert. Solche Kritik gibt es (man spricht dann gern davon, dass es Kritik „hagelt“) in verschiedenster Couleur: Impf-Kritik, Europa-Kritik, Gender-Kritik und so weiter.
Kritik im eigentlichen Wortsinn meint aber das „unterscheiden“ oder „trennen“ (griech: κρίνειν) von Sachverhalten. So ist es keineswegs die Aufgabe eines Filmkritikers, alle Filme blöd zu finden. Er unterscheidet lediglich zwischen guten und weniger guten Filmen. Ein guter Restaurant-Kritiker kann nicht nur erklären, was ein Essen schlecht macht, sondern auch (und das ist viel schwieriger) genau auf den Punkt bringen, was genau ein gelungenes Rezept so lecker macht.
Ein zentraler Bestandteil des Theologiestudiums ist die Bibelkritik. Die hat auch in manchen Kreisen einen ziemlich schlechten Ruf. Zu Beginn meines Studiums hörte ich einen Kommilitonen in einem Proseminar fragen, warum es denn ausgerechnet „kritische Methode“ heißen müsse. Könnte man da nicht einfach einen netteren Namen finden?
Es wird immer wieder gern behauptet, die Bibelkritik sei etwas Schädliches. Sie zerstöre das Vertrauen in die Heilige Schrift, indem sie deren Aussagen in Frage stellt. Die Bibel dürfe nicht hinterfragt, sondern müsse einfach geglaubt werden.
Dabei ist ein unkritischer Umgang mit der Bibel etwas überaus Problematisches: Wer versucht, alle Aussagen der Bibel verbatim umzusetzen, wird früher oder später an Grenzen stoßen (der Verzicht auf den Genuss von Muscheln mag zu verschmerzen sein; die Steinigung von Ehebrechern und Homosexuellen bringt uns jedoch an die Grenzen des Machbaren).
Es braucht also ein System zu Unterscheidung („Kritik“) der Bibel, anhand dessen wir beurteilen können, wie welche biblischen Aussagen auf uns heute übertragbar sind.
Solche Systeme zur Unterscheidung gibt es schon solange wie den biblischen Kanon: Die jüdischen Rabbiner haben seitenweise über den Sinn von Bibeltexten diskutiert und diese Diskussionen zu einer Art Bibel-Leitfaden zusammengefügt. In der Alten Kirche hat man sich auf Konzilien zusammengefunden und versucht, in Streitfragen einen Konsens zu formulieren. Martin Luther begründete das Schriftprinzip des Was Christum treibet und unterschied Bibelstellen und -bücher nach ihrer „Christusgemäßheit“. So unterschiedlich diese Methoden auch waren und sind, Einigkeit herrschte darüber, dass zum Verständnis der Schrift Unterscheidung – Kritik – notwendig ist.
Zu dieser Unterscheidung hat sich in der modernen theologischen Wissenschaft die Historische Kritik durchgesetzt: Man fragt erst einmal danach, was die Autoren der biblischen Texte zu ihrer damaligen Zeit mit ihren Aussagen bezwecken wollten und welche Gründe sie dafür hatten. Von da aus lässt sich dann beurteilen, welche Bedeutung diese Texte für unser Leben heute haben können und wollen. Dabei geht es nicht nur darum, Texte auszusortieren, sondern auch, die „guten“ Texte besser und tiefgründiger zu verstehen.
Diese Methode ist zugegeben oft spekulativ, aber doch deutlich wissenschaftlicher als ein biblizistisches „Was will uns Gott damit sagen?“. Wem die historisch-kritische Auslegung nicht passt, soll ein anderes Unterscheidungssystem vorschlagen, das wissenschaftlich nachvollziehbar ist und bessere Ergebnisse liefert. Die Forderung, auf jeglichen kritischen Umgang mit der Bibel zu verzichten, ist und bleibt jedoch Unsinn.