Der Gesprächsprozess der sächsischen Landeskirche zum Schrift- und Kirchenverständnis
Anlässlich des kürzlich angekündigten Rücktritts des sächsischen Landesbischofs Carsten Rentzing fiel mir auf, dass ich meine Diplomarbeit von 2016 zum sächsischen „Gesprächsprozess zum Schrift- und Kirchenverständnis“ nie öffentlich zugänglich gemacht habe.
Es geht darin um die heftige Auseinandersetzung zwischen der Kirchenleitung und der konfessionell-evangelikalen „Sächsischen Bekenntnisinitiative“ (SBI) in der Zeit von 2012 bis 2014.
Carsten Rentzing war damals einer der Wortführer der SBI. In den im Folgenden geschilderten Ereignissen spielt Carsten Rentzing eine nicht unbedeutende Rolle.
Soviel vorweg: In keinem der zahlreichen Vorträge, Artikel und Interviews mit und von Rentzing, die ich für diese Arbeit gesichtet habe, ist dieser in irgendeiner Art als nationalistisch, völkisch oder anderweitig politisch rechts aufgefallen. Im Gegenteil hat Rentzing sich im Kontext der Flüchtlingskrise von 2015 wiederholt dezidiert gemäßigt und flüchtlingsfreundlich geäußert.
Die gesamte Arbeit liegt hier als PDF zum Download bereit. Was folgt, ist eine gekürzte Fassung ohne Fußnoten.
Der Gesprächsprozess der sächsischen Landeskirche zum Schrift- und Kirchenverständnis
Max Melzer
Leipzig, den 22. September 2016
1 Einleitung
Viele Sachsen denken mit Schmerzen zurück an den „Gesprächsprozess zum Schrift- und Kirchenverständnis“ ihrer Landeskirche. Andere mit enttäuschtem Zynismus. Wieder andere sind erleichtert, dass eine wie auch immer geartete Spaltung der Landeskirche abgewendet werden konnte.
Der Gesprächsprozess scheint eine Parabel zu sein für die Situation in Sachsen, für die unauflösbare Spannung zwischen einer Landeskirche mit bewusst lutherischem Profil und ihrer dennoch starken innerkirchlich-evangelikalen Opposition. Möglicherweise ist es deshalb aufschlussreich, die Dynamiken dieses Gesprächsprozesses nun erstmals mit etwas zeitlicher Distanz zu untersuchen.
1.1 Zielstellung
Diese Arbeit soll einen zeitgeschichtlichen Überblick über den Gesprächsprozess zum Schrift- und Kirchenverständnis (GP) geben, den die sächsische Landeskirche von April 2012 bis Februar 2014 führte. Dabei soll sich auf zentrale Kontroversen und Akteure konzentriert werden. Besonders soll auf Ursachen und Entstehung des GP eingegangen werden. Dabei sollen auch das Verhalten der sächsischen Kirchenleitung (KL) und der GP selbst als kirchenleitende Maßnahme aus praktisch-theologischer Sicht kritisch beleuchtet werden. In einem Exkurs soll außerdem besonders der Teil des GP untersucht werden, der im Medium Internet stattfand. Dieser wurde in bisher erschienenen Auswertungen kaum berücksichtigt, obwohl er auf den GP an der Gemeindebasis einen nicht zu unterschätzenden Einfluss hatte.
Eine Klärung ekklesiologischer, hermeneutischer und exegetischer Fragen, mit denen sich die Mitwirkenden des GP beschäftigten, kann und soll nicht Teil der Untersuchung sein. Die damit verbundenen Probleme können im Rahmen dieser Arbeit lediglich am Rande dargestellt werden.
2 Die Vorgeschichte des Gesprächsprozesses
2.1 Die EKD-Dienstgesetzreform als Prolog des Gesprächsprozesses
Die Entwicklungen, die Ursache für den Konflikt sind, der schließlich zum Gesprächsprozess der sächsischen Landeskirche führte, sind komplex und reichen teilweise weit in die Vergangenheit, bis zum Beginn der evangelikalen Bewegung Mitte des letzten Jahrhunderts und noch weiter. Eine ausführliche Behandlung dieser Entwicklungen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
Der Auslöser des für diese Untersuchung relevanten Abschnitts der sächsischen Kirchengeschichte lässt sich jedoch sehr konkret benennen. Es war die Reform des Pfarrerdienstgesetzes der EKD. Für dieses „Kirchengesetz zur Regelung der Dienstverhältnisse der Pfarrerinnen und Pfarrer in der Evangelischen Kirche in Deutschland“ wurde auf der EKD-Synode im November 2010 ein Entwurf mit verschiedenen Reformen vorgelegt. Dabei ging es beispielsweise um die Präzisierung des Begriffs des „ungedeihlichen Wirkens“ oder um die Berücksichtigung moderner Kommunikationsmittel bei Fragen der Präsenzpflicht. Brisanz erlangte jedoch ausschließlich § 39 dieses Entwurfs mit dem Titel „Ehe und Familie“ und besonders dessen Begründungstext.
2.1.1 Gesetz und Begründung
Auslöser für zahlreiche Proteste war § 39 Absatz 1 des Pfarrdienstgesetzes:
„Pfarrerinnen und Pfarrer sind auch in ihrer Lebensführung im familiären Zusammenleben und in ihrer Ehe an die Verpflichtungen aus der Ordination (§3 Absatz 2) gebunden. Hierfür sind Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und gegenseitige Verantwortung maßgebend.“
Knackpunkt war der scheinbar unverdächtige Begriff „familiäres Zusammenleben“.
Der Begründungstext definierte „familiäres Zusammenleben“ also als auch Eingetragene Lebenspartnerschaften einschließend. Ausdrückliche Intention dieses Paragraphen sei es, dass die Gliedkirchen „ihre jeweilige, häufig in engagierten Diskussionen errungene Praxis zum Umgang mit Eingetragenen Lebenspartnerschaften ohne erneute Diskussion“ fortsetzen können.
Die Autoren des Begründungstextes scheinen geahnt zu haben, dass in den Gliedkirchen der Vorwurf der Relativierung der Ehe aufkommen würde. Sie betonten, dass der Ehe weiterhin eine „besondere Bedeutung“ zukomme, da sie anderen Lebensformen „als Modell zugrunde liegt“. Ein weiteres Indiz für die Antizipation von Kritik an § 39 bietet der weitere Textverlauf. Explizit wurde hingewiesen auf die Möglichkeit der Gliedkirchen, diesen § 39 im Blick auf Eingetragene Lebenspartnerschaften unterschiedlich auszulegen.
Entsprechend lag es nun an den Gliedkirchen, die Gesetzesreform zu verhandeln. Zu einer änderung ihrer jeweiligen Positionen zu im Pfarrhaus gelebten homosexuellen Partnerschaften wurden die Gliedkirchen durch das Dienstgesetz nicht genötigt, aber die verschiedenen Synoden würden das Thema wegen der Reform (erneut) behandeln müssen.
2.1.2 Evangelikale Kritik an der Dienstrechtsreform
Verschiedene evangelikale Gruppen nahmen die Veröffentlichung des Entwurfs zur Reform des Pfarrerdienstgesetzes zum Anlass für heftige Kritik. Noch bevor die Synoden über ihren Umgang mit § 39 beraten konnten, kam es zu Wortmeldungen, die der EKD zunehmende Entfremdung von der „biblischen Lehre“ diagnostizierten.
Der „Offene Brief“ der acht Altbischöfe
Im Januar 2011, drei Monate nach Vorstellung des neuen EKD-Dienstgesetzes schrieben acht deutsche Altbischöfe einen offenen Brief an die Synoden aller EKD-Gliedkirchen. Darin baten sie die Synodalen „eindringlich, nur dem Wortlaut von § 39 dieses Gesetzes für Ihre Landeskirche zuzustimmen, nicht jedoch der beigefügten ,Begründung‘, die als solche keine Gesetzeskraft hat.“
Verantwortlich für den Brief zeichnete sich der ehemalige Bischof der Nordelbischen Landeskirche Ulrich Wilckens, ein prominentes Mitglied der evangelikalen Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ (B KAE).
Der Brief argumentierte, dass die Gesetzesreform durch deren Begründung schriftwidrig würde, weil diese die Gleichwertigkeit homosexueller Beziehungen mit der Ehe postuliere. Die Begründung widerspreche dem Gesetzestext sogar, der „in seinem Wortlaut solcherlei Ausweitungen ausschließt“.
Für Wilckens und die Altbischöfe ging es bei diesem „Kampf“ um nichts weniger als die Geltung der Heiligen Schrift:
„Denn es geht dabei im Grunde um nichts Geringeres als um die Frage, ob evangelische Kirchen darauf bestehen, dass die Heilige Schrift die alleinige Grundlage für den Glauben und das Leben ihrer Mitglieder und für den Dienst und die Lebensführung ihrer ordinierten Pfarrerinnen und Pfarrer bleibt, oder ob eine Landeskirche nach der anderen eine Angleichung an die in der Gesellschaft üblich gewordenen Lebensformen für so wichtig halten, dass sie dafür die Orientierung an der Heiligen Schrift aufgeben bzw. aufweichen.“
„Für die Freiheit des Glaubens“
Im August des gleichen Jahres erschien der Text „Für die Freiheit des Glaubens und die Einheit der Kirche“, ein „[g]emeinsames Zeugnis“, herausgegeben von Bekenntnisgemeinschaften aus Bayern und Baden sowie einigen Einzelpersonen – darunter wieder Ulrich Wilckens, der emeritierte Theologieprofessor Reinhard Slenczka sowie andere Theologen im Umfeld der westdeutschen Bekenntnisgemeinschaften.
Das „Zeugnis“ präsentierte sich als Kombination aus Unterschriftensammlung und Brandbrief.
Was folgte war eine bissige Abrechnung vor allem mit der angeblichen Gleichstellung homosexueller Partnerschaften durch die EKD und ihre Gliedkirchen. Der Text holte aber noch weiter aus und monierte die mangelnde Schriftbindung der Kirche und deren weitläufige Leugnung der „Heilsbedeutung von Tod und Auferstehung Jesu.“ Es wurde ein Bild gezeichnet von durch und durch korrumpierten Kirchenleitungen, die mit Täuschung und Tücke über die Köpfe des Gemeindevolkes hinweg ihre homosexuellenfreundliche Agenda vorantrieben.
Der Text sprach von „Bekenntnisnot“, im Stil der Barmer Theologischen Erklärung wurde wiederholt „falsche Lehre“ durch die Autoren benannt und verworfen. Sie verstanden ihr „Zeugnis“ als treue Auslegung und Aktualisierung der evangelischen Bekenntnisschriften.
Verbindungen nach Sachsen und zur späteren SBI
„Für die Freiheit des Glaubens“ und der „Offene Brief“ der Altbischöfe hatten eine ähnliche Stoßrichtung wie die erst später gegründete SBI, jedoch auf EKD-Ebene. Die beiden Papiere zeigen exemplarisch, dass die SBI deutschlandweit mit ihrer Protesthaltung nicht allein stand. Der Brief der Altbischöfe diente als Vorlage für die wenige Monate später durch Pfarrer Gaston Nogrady verfasste „Markersbacher Erklärung“, hinter der sich später verschiedene sächsische Verbände zur SBI zusammenfanden.
2.1.3 Das Ergänzungsgesetz der sächsischen Landeskirche
Die sächsische Landeskirche hatte kirchenrechtlich keine Möglichkeit, einzelne Paragraphen der Dienstgesetzreform abzulehnen oder zu modifizieren. Durch ein Ergänzungsgesetz ließ sich lediglich ein „eigenes Profil für die Anwendung“ einzelner Paragraphen einbringen. Ein solches Ergänzungsgesetz war nichts ungewöhnliches, auch andere Landeskirchen machten von dieser Möglichkeit gebrauch.
Auf dem sächsischen Pfarrertag im September 2011 in Chemnitz sprach Landesbischof Jochen Bohl in einer Nebenbemerkung davon, dass KL und Landeskirchenamt „keine Ausführungsbestimmungen“ zum neuen EKD-Dienstgesetz anstreben. Auf der Herbstsynode 2011 wiederholte Bohl diese Prognose. Anscheinend rechnete das Landeskirchenamt zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit einer größeren Kontroverse, obwohl die den § 39 kritisierende Markersbacher Erklärung bereits eine nennenswerte Zahl von Unterstützern angehäuft hatte und auch Bohl auf der Synode zur Kenntnis nahm, dass „die Frage [nach dem Umgang mit Homosexualität] in der Landeskirche erneut diskutiert“ wurde.
Offiziell wurde die EKD-Reform erst auf der Frühjahrssynode 2012 – nach dem Kirchenleitungsbeschluss vom Januar 2012 und der Gründung der SBI – behandelt. Bereits im Vorfeld wurden das Dienstgesetz und der Themenkomplex um § 39 heiß diskutiert. Christine Reuther von der Kirchenzeitung „Der Sonntag“ berichtete, dass „[v]iele Synodale“ befürchteten, es würde „zum Eklat kommen.“ Der Vorsitzende des synodalen Rechtsausschusses Pfarrer Frank Meinel sprach auf der Synode von „ca. 130 Eingaben“, die dazu bei der Synode eingegangen seien, „die viel Leidenschaft spiegeln.“ Nicht wenige dieser Eingaben werden im Sinne des „Offenen Briefes“ der Altbischöfe und der Markersbacher Erklärung gegen eine Übernahme des neuen § 39 plädiert haben.
Auf der Synode legten der Rechtsausschuss und der theologische Ausschuss einen Entwurf für ein „Pfarrdienstgesetzergänzungsgesetz“ im Blick auf den umstrittenen § 39 vor. Dieses Ergänzungsgesetz brachte einen „neuen § 15“ ein, der, in den Worten von Frank Meinel,
“[. . .] den alten Wortlaut des Pfarrergesetzes des VELKD im § 51, aufnimmt, der lautet: ,Pfarrerinnen und Pfarrer sind auch in ihrer Lebensführung in Ehe und Familie ihrem Auftrag verpflichtet.‘ Damit wird noch einmal die bleibende Leitbildfunktion von Ehe und Familie, gerade auch im Hinblick auf das Pfarramt, in einem Kirchengesetz besonders betont. Die Ehe bleibt in unserer Sicht ein besonderes Geschenk des Schöpferwillens Gottes. Unbeschadet dessen bleibt aber der Kirchenleitungsbeschluss bestehen und kann im Einzelfall angewendet werden. Dies ist der Ausgleich, der es allen ermöglicht, unverletzt aus dieser Debatte zu gehen.“
Der zitierte Wortlaut widerspiegelt sowohl die Heftigkeit der Debatte auch in der Synode als auch die internen Verhandlungen mit der SBI, die vor allem die Rücknahme des Kirchenleitungsbeschlusses gefordert hatte. Die Übernahme des VELKD-Paragraphen 51 war eine explizite Konzession der KL an die SBI. Diesen Kompromiss hatte das damalige Synoden- und SBI-Mitglied Carsten Rentzing zwischen SBI und Synode mit Mühe ausgehandelt, zur „Befriedigung“ der Situation:
„Auf beiden Seiten ist dieser Vorstoß [der Aufnahme des VELKD-Paragraphen 51] zunächst auf erhebliche Vorbehalte getroffen. Am Ende hat sich die Bekenntnis-Initiative durchgerungen, darin ein positives Zeichen zu sehen.“
Auch die Berichterstattung der Landeskirche über die Synode betonte, dass SBI und Gemeinschaftsverband mit diesem Kompromiss einverstanden waren:
„Die Vertreter des sächsischen Gemeinschaftsverbandes, Vertreter der ,Sächsischen Bekenntnisinitiative‘ als auch Befürworter des Kirchenleitungsbeschlusses begrüßten den gefundenen Ausgleich und bezeichneten ihn als ,Brücke‘, um im gemeinsamen Gespräch zu bleiben.“
An diesen Kompromiss gekoppelt wurde ein dreijähriger Gesprächsprozess über die theologischen Fragen, die durch den Kompromiss nicht geklärt werden konnten. Die Synode beschloss dieses Paket am 27. April 2012 mit nur zwei Gegenstimmen.
Der „Sonntag“ lobte nach der Synode den prägenden „Geist des Verständnisses und des gegenseitigen Verstehens“. Der „befürchtete Eklat“ sei „ausgeblieben.“ Betont wurde die Notwendigkeit eines weiterführenden Gesprächs, zugleich aber auch leise Zweifel an der Durchführbarkeit eines solchen Gesprächsprozesses angemeldet.
2.2 Die Markersbacher Erklärung als Auftakt des Konfliktes
Die sogenannte „Markersbacher Erklärung“ vom Mai 2011 wurde benannt nach dem gleichnamigen 1500-Seelen-Dorf im Erzgebirge, wo Gaston Nogrady seit 1995 Pfarrer war. Nogrady hatte den Anstoß für die Markersbacher Erklärung gegeben und war selbst Verfasser. Es handelte sich dabei um eine als Unterschriftensammlung konzipierte Reaktion auf § 39 der Pfarrerdienstgesetzreform der EKD.
Die Erklärung war einfach und sachlich formuliert. Sie rekurrierte auf den KL-Beschluss von 2001. Dieser war eine Reaktion auf die Einführung Eingetragener Lebenspartnerschaften durch die Bundesregierung im gleichen Jahr gewesen und hatte Pfarrerinnen und Pfarrern das Führen einer solchen Partnerschaft im Pfarrhaus verboten. Die Unterzeichner der Markersbacher Erklärung „bitten die KL […] inständig“ an der Regelung von 2001 festzuhalten, dass eine homosexuelle Beziehung weiterhin nicht im Pfarrhaus gelebt und nicht zum Verkündigungsinhalt gemacht werden darf.
Die Markersbacher Erklärung hatte die gleiche Intention wie die evangelikale Kritik an § 39 auf EKD-Ebene, z.B. im „Offenen Brief“ der acht Altbischöfe. Jedoch konkretisierte sie deren Anliegen durch den Verweis auf den Beschluss der sächsischen KL von 2001, der durch das neue Pfarrerdienstgesetz in Frage gestellt sei. Damit hing der Widerstand gegen § 39 Pfarrerdienstgesetz und die Bewegung hinter der Markersbacher Erklärung direkt ab von der Gültigkeit des KL-Beschlusses von 2001 als deren Grundlage. Nach eigenen Angaben wusste Nogrady beim Verfassen der Markersbacher Erklärung, dass die KL (aus anderen Gründen) bereits eine Evaluation eben jenes Beschlusses durch eine „Arbeitsgruppe Homosexualität in biblischem Verständnis“ angeordnet hatte. Er habe „von Leuten aus dieser AG gehört, die traurig waren und sagten: Die andere Seite macht stark Druck und eine starke Lobbyarbeit, aber von den frommen Gemeinden auf dem Land kommt gar nichts, die sind still und lassen sich alles gefallen.“ Nogrady sammelte in den Gemeinden Sachsens einige Monate Unterstützer für seine Erklärung.
Im Februar 2012 hatte die Erklärung laut der frisch gegründeten SBI Unterschriften von „über 130 Kirchgemeinden, 160 Landeskirchlichen Gemeinschaften, vielen Werke unserer Kirche sowie über 600 Einzelpersonen“ gesammelt und im April 2015 schrieb der „Sonntag“ von 144 unterstützenden Kirchenvorständen. Insgesamt gibt es 719 Kirchgemeinden in der sächsischen Landeskirche. Die Markersbacher Erklärung wurde also unterstützt von etwa einem Fünftel der Landeskirche und wurde Ausgangspunkt einer Protestbewegung, die in der Gründung der „Sächsischen Bekenntnis-Initiative“ mündete.
2.4 Die Arbeitsgruppe „Homosexualität in biblischem Verständnis“
2.4.1 Die Einsetzung der Arbeitsgruppe
Ende 2010 berief die KL eine „Arbeitsgruppe Homosexualität in biblischem Verständnis“ ein. Ihre Aufgabe sollte zweierlei sein: Erstens sollte sie ein Beitrag zu einem „Dialog- und Konsultationsprozess“ in den Gliedkirchen des Lutherischen Weltbundes sein. Zweitens hatte die AG den Auftrag, den Beschluss der KL zum Lebenspartnerschaftsgesetz von 2001 zu evaluieren. Es sollten die „gemachten Erfahrungen zum Umgang mit der Homosexualität“ gesammelt und der dahinterliegende „biblische Textbefund und das Schriftverständnis“ geprüft werden.
2.4.2 Der Abschlussbericht der AG „Homosexualität in biblischem Verständnis“
Die AG beendete ihre Arbeit im August 2011 mit der Verfassung eines 75 Seiten starken Abschlussberichtes, der der KL am 10. Oktober übergeben wurde.
Nach der EKD-Pfarrdienstgesetzreform und der darauf reagierenden Markersbacher Erklärung hatte sich die Situation in der Landeskirche inzwischen grundlegend geändert. Das Thema Homosexualität und die Geltung des KL-Beschlusses von 2001 waren – unabhängig von der Arbeit der AG – neu in den Fokus der Landeskirche gerückt.
Die AG berichtete über ihre Beratungen zu verschiedenen Themenkomplexen rund um die Frage nach Umgang mit und Bewertung von homosexuellen Partnerschaften. Dabei wurde schnell deutlich, dass es innerhalb der Arbeitsgruppe zwei Positionen gab.
Im fünften Kapitel „Zum Schriftverständnis“ wurde der primäre Dissens auf einen unterschiedlichen Umgang mit der Bibel eingegrenzt. Es gab zwei „Verstehens“- oder „Sichtweisen“: Die erste schlussfolgerte, „dass gelebte Homosexualität mit dem Willen Gottes nicht übereinstimmt.“ Die zweite führte „zu einer positiven Bewertung der in Verantwortung und Treue und auf Dauer angelegten homosexuellen Lebensweise.“ Beide Sichtweisen seien biblisch und vor den Bekenntnisschriften verantwortbar, jedoch nicht miteinander vereinbar.
Strukturiert wurde der Bericht durch periodische Zusammenfassungen der Konsense und der Dissense innerhalb der AG. Wichtig war vor allem der mehrfach festgestellte Konsens, „dass die unterschiedlichen Auffassungen nicht den status confessionis heraufbeschwören[…].“ Daraus schlussfolgerte die AG: „Das Beieinanderbleiben muss möglich sein“ und legte nahe, in der Landeskirche eine Debatte nach dem Vorbild der Debatten um die Frauenordination zu führen. Ein groß angelegter Gesprächsprozess war jedoch noch nicht angedacht.
Weshalb dieser Abschlussbericht während des GP kaum rezipiert wurde, bleibt eine der offenen Fragen (und eines der größten Versäumnisse) des GP. 2015 erklärte Bohl in einem Interview mit dem „Sonntag“, er habe sich dafür eingesetzt, dass noch vor einem Beschluss der KL in der Landeskirche über den Abschlussbericht diskutiert würde; diese Bemühungen seien jedoch von einer Mehrheit der KL abgeschmettert worden.
2.5 Der Kirchenleitungsbeschluss von 2012
2.5.1 Inhalt
Auf einer zweitägigen Klausurtagung in Dresden am 20./21. Januar 2012 beriet die KL über die Ergebnisse der AG.
Der Abschlussbericht der AG diente als Grundlage für den Beschluss, den die KL am Ende des Klausurwochenendes vorlegte. Darin würdigte sie „dankbar den gefundenen Konsens der AG“ und schloss „sich ausdrücklich der Einsicht an, dass der status confessionis nicht gegeben ist.“ Ausdrücklich nannte der Beschluss die durch die AG herausgearbeiteten zwei theologischen Positionen zum Schriftverständnis „jeweils eine geistlich und theologisch angemessen begründete Position.“ Deshalb werde die KL der Empfehlung der AG folgen, weitere „anstehende Fragen seelsorgerlich zu behandeln,“ also ausdrücklich nicht auf eine theologische Entscheidungsfindung, sondern ein Miteinander-Auskommen hinzuarbeiten.
Aus dem KL-Beschluss von 2001 bekräftigte die KL „die bleibende Bedeutung der biblischen Ordnung von Ehe und Familie als Leitbild“. Sämtliche Regelungen von 2001 sollten „fortgeschrieben“ werden, also bestehen bleiben. Die ausdrückliche Begründung hierfür lautete: „Um der Einheit der Landeskirche willen“.
Diese Fortschreibung wurde jedoch durch eine Ausnahmeregelung eingeschränkt: „Das Landeskirchenamt kann im Einzelfall im geschwisterlichen Zusammenwirken mit dem Landesbischof homosexuellen Pfarrern und Pfarrerinnen, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, das Zusammenleben im Pfarrhaus gestatten. Voraussetzung ist die einmütige Zustimmung des zuständigen Kirchenvorstandes. Der Superintendent ist zu hören.“
Der Begründungstext der KL zum Beschluss erläuterte, die Umstände hätten sich zwar seit 2001 „rechtlich, gesellschaftlich wie kirchlich deutlich wahrnehmbar verändert“, jedoch bestünden innerhalb der Landeskirche auch „unverändert stark ablehnende Auffassungen“. Weil sich die KL der „Einheit der Kirche“ verpflichtet sehe, wollte sie ausdrücklich kein theologisches Urteil treffen, sondern an der bisherigen Regelung festhalten. Wiederum aus seelsorgerlichen Gründen sollten „Einzelfallentscheidungen“ jedoch möglich werden. Bei diesen Verfahren sollten die Gewissen der Kirchenvorstände „nicht gezwungen werden“, weshalb eine solche Entscheidung nur „einmütig“ getroffen werden sollte.
2.5.2 Bedeutung
Auch wenn es weder bei der Einsetzung der AG noch auf der Klausurtagung der KL um die Pfarrerdienstgesetzreform ging, musste die KL die bereits heftig geführten Diskussionen um § 39 berücksichtigen. Die Markersbacher Erklärung hatte den Beschluss von 2001 direkt mit dem § 39 in Bezug gesetzt. Als die KL über eben jenen Beschluss beriet wusste sie also, dass eine Einschränkung des 2001-Beschlusses nicht ohne Gegenwind bleiben würde.
Aus Sicht der späteren SBI wurde mit dem KL-Beschluss der Beschluss von 2001 aufgehoben. Zwar betonte der neue Beschluss selbst, dass bisherige Regelungen fortgeschrieben werden sollten, dennoch stellte die „Einzelfallregelung“ zumindest eine Einschränkung der Regelung von 2001 dar. Auf der folgenden Frühjahrssynode sprach Frank Meinel deshalb auch sachgemäß von einer „Modifizierung“ des KL-Beschlusses von 2001.
Das Wort „Kompromiss“ findet sich im KL-Beschluss nicht, genau das war er aber (und im öffentlichen Protokoll der Klausurtagung wurde er auch so bezeichnet). Ausdrückliches Ziel sei die „kirchenpolitische Befriedung“ der Situation gewesen.
Im Blick auf den weiteren Verlauf der Geschichte lässt sich sagen, dass dieses Ziel verfehlt wurde. Nicht nur konnte der KL-Beschluss die Gegner des §39 nicht für sich gewinnen, er provozierte im Gegenteil die Gründung der SBI und damit die fortschreitende Frontenbildung innerhalb der Landeskirche.
Durch die Entscheidung der Kirchenleitung, keine theologische Festlegung zu treffen, sondern mit den verschieden Meinungen seelsorgerlich zu verfahren, wurde mit Berufung auf die Ergebnisse der AG jede weitere theologische Diskussion von der theologischen Entscheidungsebene auf die Beziehungsebene verschoben. Diese Vorzeichensetzung galt auch für den späteren GP. Dass dieses Vorzeichen in dessen Auseinandersetzungen so häufig vergessen oder ignoriert wurde, kann durch die verhängnisvoll geringe Rezeption des AG-Abschlussberichtes in der Landeskirche erklärt werden.
Zentrales Problem am Kirchenleitungsbeschluss war, dass die Erkenntnisse der AG „Homosexualität in biblischem Verständnis“, so theologisch schlüssig sie gewesen sein mochten, innerhalb der Landeskirche zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht konsensfähig, beziehungsweise bekannt genug waren. Dreieinhalb Jahre nach dem KL-Beschluss gestand Bohl in einem „Sonntag“-Interview dieses Problem ein:
„Die KL hatte eine theologische Arbeitsgruppe zur Vorbereitung ihrer Entscheidung eingesetzt. Ich war damals der Meinung, dass deren Ergebnisse in der Landeskirche hätten diskutiert werden sollen. Aber das hat eine Mehrheit in der KL anders gesehen und es gab auch gute Gründe dafür. Es war wie es häufig ist: Im Rückblick ist man klüger und kann das eine oder andere kritisch bewerten.“
2.6 Die Gründung der „Sächsischen Bekenntnis-Initiative“
Nur zwei Tage nach dem Klausurwochenende veröffentlichte die Ev.-Luth. Bekenntnisgemeinschaft Sachsen (BG) auf ihrer Homepage eine Kritik des KL-Beschlusses in drei Punkten: Die KL verlasse mit der Ausnahmeregelung den Boden von Schrift und Bekenntnis (deren „Position […] zu praktizierter Homosexualität […] eindeutig“ sei). Außerdem führe diese Ausnahme zu „einer weiteren Abwertung der guten biblischen Ordnung der Ehe“. Drittens verschiebe der KL-Beschluss die Verantwortung auf die Kirchenvorstände, die „vor Ort viel größeren Zwängen ausgesetzt“ seien. Auch die „AG Homosexualität in biblischem Verständnis“ wurde zwar erwähnt, deren theologische Arbeit jedoch lapidar abgetan. Die BG war zuvor bereits Unterstützer der Markersbacher Erklärung gewesen.
Am 30. Januar 2012, eine Woche später, gründeten Karsten Klipphahn, Vorsitzender der BG, und Gaston Nogrady, Initiator der Markersbacher Erklärung, in Markersbach die „Sächsische Bekenntnis-Initiative“. Gründungsmitglieder waren außerdem Vorstände zahlreicher konfessioneller und pietistischer Verbände innerhalb der Landeskirche. Laut Klipphahn war die Gründung der SBI eine direkte „Antwort auf den Beschluss der Kirchenleitung“.
2.6.1 Das Gründungspapier der SBI und dessen Begründung
Die Gründungsmitteilung der SBI griff teils wortgleich Formulierungen der Verlautbarung der BG auf. Jedoch wurden nicht deren drei Kritikpunkte wiederholt, sondern stattdessen die Forderung der Markersbacher Erklärung.
Die Erklärung kritisierte vor allem die Behauptung der KL, man würde den Beschluss von 2001 „fortschreiben“. Der neue Beschluss sei keine Fortschreibung, „sondern in allen wichtigen Punkten dessen Aufhebung.“ Daraus schlussfolgerte die SBI, dass sie „aufgrund von Schrift und Bekenntnis widersprechen“ müsse. Außerdem wurde angedeutet, Mitglieder der SBI würden möglicherweise in Zukunft der KL ihre Loyalität verweigern müssen.
Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Abschlussbericht der AG „Homosexualität in biblischem Verständnis“ fand auch durch die SBI nicht statt. In einem für diese Arbeit geführten Interview gab SBI-Sprecher Gaston Nogrady erstaunlich freimütig zu, dass der SBI eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem AG-Bericht überflüssig erschien, da dessen Ergebnis „leider von vornherein klar war – das hing mit der Zusammensetzung der AG zusammen, die mehrheitlich mit Befürwortern einer Öffnung besetzt war.“
Wirkung
Die Erklärung der SBI gab zwar die wichtigsten Inhalte und Konzessionen des KL-Beschlusses korrekt wieder und behauptete, das „Bemühen“ dahinter zu würdigen, legte der KL jedoch Schlussfolgerungen in den Mund, die diese selbst ausdrücklich ablehnte. Außerdem ignorierte die SBI völlig den Abschlussbericht der AG, der Grundlage des KL-Beschlusses war. Es wurde nicht eingegangen auf die Argumentation der AG, dass die durch die SBI monierte „Vielfalt der Interpretationen“ durchaus vor Bibel und Bekenntnis zu verantworten und darüber hinaus der einzige gangbare Weg für das „Beieinanderbleiben“ sei. Auch die Einschätzung der SBI zum KL-Beschluss von 2001 scheint einseitig. Man sah keine Notwendigkeit einer Nivellierung und beharrte wiederholt auf der angeblichen Klarheit des Beschlusses – im direkten Widerspruch zum Abschlussbericht der AG, der dem Beschluss einheitlich „Unklarheiten hinsichtlich der Auslegung“ diagnostizierte. Im Lichte dessen erscheint die Erklärung der SBI als inhaltliche Kritik am Kirchenleitungsbeschluss unzureichend.
Legitim ist zumindest der Vorwurf der SBI, die KL habe mit ihrem Beschluss die 2001-Regelung nicht lediglich „fortgeschrieben.“ Die Argumentation, die KL würde dadurch gewissermaßen zwangsläufig Schrift und Bekenntnis widersprechen, ist jedoch nicht einleuchtend.
In einem Punkt gab sich die SBI durch ihre heftige und wiederholte Kritik am KL-Beschluss selbst recht: Die durch die KL angestrebte „kirchenpolitische Befriedung der Situation“ war in der Tat gescheitert.
2.6.2 Die SBI als Sammelbecken evangelikal-konservativer Gruppen
Die SBI organisierte sich locker über ein Netzwerk aus vier Sprechern und einer Reihe von „regionalen Ansprechpartnern“, sowie einem ca. 35 Personen starken Email-Verteiler. Sprecher waren die Pfarrer Falk Klemm, Karsten Klipphahn und Gaston Nogrady sowie der Jugendwart Thomas Friedemann. Friedemann brachte sich im GP kaum ein, einige der regionalen Ansprechpartner dafür umso mehr. Gunther Geipel, Johannes Berthold und Carsten Rentzing sind diejenigen, die in den Quellen am häufigsten in Erscheinung treten. Nach eigener Aussage war die SBI eine Initiative „verschiedener bekenntnistreuer Gruppierungen und Gemeinden unserer sächsischen Landeskirche.“ Den Gründern der SBI gelang es, innerhalb weniger Wochen sämtliche konservativen Verbände innerhalb der Landeskirche zu bündeln. Schlussendlich gab es keine innerkirchliche Opposition gegen den KL-Beschluss, die nicht in der SBI beheimatet gewesen wäre. Die Liste der Gründungsvereine war gleichzeitig ein umfassendes who-is-who der innerkirchlichen pietistisch- und konfessionell-evangelikalen Szene in Sachsen.
Gleichzeitig zeigt ein Blick auf die Quellenlage, dass die Anzahl der tatsächlichen Akteure sich innerhalb der SBI in Grenzen hielt. Es begegnen wiederholt die selben Namen. Dies bestätigt die These von Gisa Bauer, die evangelikale Bewegung scheine „auf Grund ihrer inszenierten Proteste, ihrer fundamentalistischen Tendenz – die allen Neuen sozialen Bewegungen inhärent ist – sowie der medialen Übertreibung massiver und zahlenmäßig größer, als sie ,wirklich‘, und das meint als soziale Gruppe, ist. Der Kern der Akteure ist nicht groß.“
Die SBI vereinte eine große Bandbreite unterschiedlicher Strömungen. Neben der lutherisch-konfessionellen BG und der Gebetsbruderschaft waren auch das Lutherische Einigungswerk und der Martin-Luther-Bund der VELKD Gründungsmitglieder. Auch zur Evangelischen Allianz hatte die SBI Verbindungen über den Moritzburger Professor Johannes Berthold, der gleichzeitig Vorstandsmitglied der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) war. Außerdem Mitglied der SBI war der eher pietistisch geprägte Landesverband Landeskirchlicher Gemeinschaften. Selbst für radikalere kirchenkritische Gruppen wie das Evangelisationsteam (ET) unter Lutz Scheufler war die SBI ein Sammelbecken (auch wenn im „Fall Scheufler“ die SBI später zumindest eine teilweise inhaltliche Abgrenzung vornahm).
Auf der Frühjahrssynode 2012 stand „die SBI“ bereits stellvertretend für das konservative Lager der Landeskirche. Zu Beginn des GP unterstützten die SBI laut einem Bericht des „Sonntag“ 106 Kirchenvorstände und knapp 8 000 Einzelpersonen.
Zwar sprach Frank Meinel auf der Synode davon, dass die regionale Verteilung von Unterstützern der SBI ein „höchst differenziertes Bild“ böte, eine Visualisierung der Unterzeichnenden Kirchgemeinden der Markersbacher Erklärung zeigt jedoch eindeutig, dass fast alle SBI-nahen Kirchgemeinden aus dem Erzgebirgsraum, dem Raum Chemnitz und Teilen des Vogtlands kamen. In der Region Meißen-Dresden-Pirna und im Leipziger Land fanden sich kaum Gemeinden, die die Markersbacher Erklärung unterzeichneten. Dies deckt sich mit den Regionen der Landeskirche, die üblicherweise als tendenziell liberal eingestuft werden (und bietet eine beinahe exakte Gegenfolie zu Abb. 1).
2.7 Verbindungen der SBI zu gesamtdeutschen evangelikalen Netzwerken
2.7.1 Die SBI als evangelikale Bewegung
Reinhard Hempelmann, Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen der EKD, definiert Evangelikalismus über dessen „Anliegen in Theologie und Frömmigkeit“, nämlich die „Notwendigkeit persönlicher Glaubenserfahrung“, „die Geltung der Heiligen Schrift als höchster Autorität in Glaubens- und Lebensfragen“ und die daraus entwickelte Ethik. Bei Hempelmann findet sich außerdem die Unterteilung des Evangelikalismus in den „klassische[n]“, den „fundamentalistische[n]“, den „bekenntnisorientierte[n]“, den „missionarisch-diakonisch[en]“ und den „pfingstlich-charismatische[n]“ Typ.
Die Theologin Gisa Bauer definiert Evangelikalismus „als Protestbewegung nicht nur innerhalb des Protestantismus, sondern auch in Selbstbehauptung gegen die traditionell-institutionelle Kirche“, betont also den Aspekt der Protesthaltung des Evangelikalismus. Wenn auch die Geschichte des Evangelikalismus sich in Ostdeutschland durch die DDR- und Wendezeit in einer grundsätzlich anderen Situation entspann als im Rest der Bundesrepublik, gab es auch in der SBI Verbindungen zu gegenwärtigen evangelikalen Netzwerken und zahlreiche inhaltliche und phänomenologische Übereinstimmungen zwischen westdeutschem Evangelikalismus und der sächsischen Protestbewegung um die SBI.
Die SBI betonte stets die Geltung von Bibel und Bekenntnis als Autorität für Leben und Glauben. Besonders die Gegenüberstellungen Schrift–Verstand und Schrift–Zeitgeist sind typisch evangelikal. Auch die Erhebung ethischer Fragen zu Bekenntnisfragen, wie es die SBI während des GP immer wieder tat, passt in dieses Schema. Vor allem aber ist die Protesthaltung der SBI ihr prägendstes Merkmal. Die SBI gründete sich als „Protestgemeinschaft“ gegen einen Beschluss der Landeskirche und entwickelte kein eigenständiges Profil über die Frage der homosexuellen Partnerschaften im Pfarrhaus hinaus. Zwar versuchte die SBI zunächst, sich positiv über den Einsatz für die „Aufrechterhaltung von der Ehe von Mann und Frau als christliches Leitbild“ zu profilieren, diesem Versuch wurde aber durch die Einigungsformel der Frühjahrssynode 2012 der Wind aus den Segeln genommen.
Aus diesen Gründen ist es zutreffend, die SBI als evangelikale Bewegung zu bezeichnen. Genauer handelt es sich bei der SBI um innerkirchlich-lutherischen Bekenntnis-Evangelikalismus. Dabei fällt auf, dass die SBI verschiedenste evangelikale Strömungen innerhalb der Landeskirche zu vereinen vermochte und vor allem auch den „klassischen“ DEA-Typ ansprach.
Die SBI bezeichnete sich selbst nicht als evangelikal, wohl um eine Nähe zu freikirchlichen Bewegungen zu vermeiden, deren Bedeutung für den Evangelikalismus in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen hat. Auch dies ist für die konfessionelle Spielart des Evangelikalismus typisch.
2.7.3 Verbindungen zur Konferenz Bekennender Gemeinschaften
Der Name „Sächsische Bekenntnis-Initiative“ war angelehnt an die Bekenntnisgemeinschaften in der KBG, einem bundesweiten Zusammenschluss aus Bekenntnisgemeinschaften und Kirchlichen Sammlungen. Die KBG wurde 1970 auf Initiative der evangelikalen B KAE gegründet. Bauer bezeichnet die KBG treffend als den „Dachverband[…] des Evangelikalismus.“ Die KBG war zwar seit dem Austritt des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes 1991 für den Evangelikalismus in Deutschland nur noch wenig relevant, – und auch die B KAE hat heute, nach heftigen Auseinandersetzungen mit der DEA, kaum noch Bedeutung für das evangelikale Lager – dennoch reichte der Einfluss der KBG-Mitgliedsverbände, um in Sachsen innerkirchlich-evangelikale Gruppen verschiedenster Couleur in kürzester Zeit zu einer neuen Bekenntnisbewegung zusammenzuschließen, die in der Synode und auf Gemeindeebene das Gespräch zu dominieren vermochte.
Laut einem Bericht des Deutschlandfunks stützte sich die SBI bei ihrer Gründung auf den „Offenen Brief“ der acht Altbischöfe. Ulrich Wilckens, der an den beiden evangelikalen Brandbriefen gegen das EKD-Pfarrerdienstgesetz maßgeblich beteiligt war, engagierte sich in der B KAE, welche Mitglied der KBG und maßgeblicher Protagonist des „Evangelikalen Protests“ von 1966 und damit evangelikales Urgestein war.
Neben den Bekenntnisgemeinschaften hatte die SBI auch guten Kontakt zum zweiten großen Flügel des innerkirchlichen Evangelikalismus: Der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA). Johannes Berthold war Vorstandsmitglied; außerdem war die DEA an der Initiative „Zeit zum Aufstehen“ von 2014 maßgeblich beteiligt, die auch die SBI unterstütze und in Sachsen bewarb. Das gemäßigtere Profil von „Zeit zum Aufstehen“ ermöglichte den Schulterschluss der SBI mit der „klassisch“-evangelikalen DEA und zum Beispiel der pfingstlich-charismatisch-evangelikalen „Geistlichen Gemeindeerneuerung.“
3 Der Gesprächsprozess
3.1 Die Frühjahrssynode 2012 und die Geburt des Gesprächsprozesses
Auf der Frühjahrssynode im April 2012 wurden erstmals der KL-Beschluss vom Januar und die dadurch neu aufgeflammten Konflikte innerhalb der Synode thematisiert. Im Ergebnis kam es zum Beschluss des dreijährigen GP. Der GP schlug keine grundsätzlich neue Richtung in der Debatte ein. Die Bereitschaft und der Wille zur Diskussion waren in der Landeskirche auch vorher reichlich vorhanden. Die Synode versuchte diese Debatte jedoch durch den GP zu institutionalisieren und zu steuern – mit dem Ziel, etwaige die Einheit der Kirche gefährdende Eskalationen zu verhindern. Außerdem wurde auf dieser Synode die EKD-Pfarrerdienstgesetzreform behandelt und ein Ergänzungsgesetz verabschiedet.
3.1.1 Die Idee eines Gesprächsprozesses
Es war nicht zuletzt Carsten Rentzing, der die Notwendigkeit einer breiteren Debatte vor der Synode ansprach. In einem Vortrag forderte er, dass das Gespräch weiter geführt werden müsse, da der momentane Dissens nicht langfristig würde bestehen bleiben können. Explizit verlangte er dabei, das „Kirchenvolk“ in das Gespräch mit einzubeziehen.
Mit dem Kompromiss in Form des § 15 des Ergänzungsgesetzes, den Rentzing zwischen Synode und SBI ausgehandelt hatte, schien auch die Lösung für den Konflikt um den KL-Beschluss vom Januar gefunden. Journalist Andreas Roth nannte es Jahre später „eine Sternstunde der sächsischen Synode.“ Laut der Berichterstattung der Landeskirche von der Synode stimmten die Synodalen der SBI dem Bestehenbleiben des KL-Beschlusses nun zu:
„Gleichfalls wies er [Frank Meinel] darauf hin, dass damit der Kirchenleitungsbeschluss vom 21. Januar 2012 bestehen bleibe und im Einzelfall unter sehr strengen Kriterien angewendet werden könne. Mitglieder der sächsischen ,Bekenntnisinitiative‘ signalisierten ihre Zustimmung zu diesem Ausgleich.“
3.1.2 Der Synodalbeschluss
Am Ende der Synode stand ein Beschluss, der am 22. April vorgelegt und am 27. April beschlossen veröffentlicht wurde.
Die Diskussionen der vergangenen Monate hätten „hinter dem gegenwärtigen ethischen Konflikt ein[en] tiefgreifende[en] Dissens im Schriftverständnis“ aufgezeigt, „der die Einheit unserer Landeskirche gefährden kann.“ Deshalb, unter dem Vorzeichen „ihrer Verantwortung für die Einheit der Landeskirche“, beschloss die Synode, „in den nächsten Jahren das Gespräch über die Hermeneutik der Bibel und über die Ordnung des christlichen Lebens umfassend zu führen“.
3.1.3 Ziel des Gesprächsprozesses
Damit definierte die Synode die Aufgabe des GP nicht als Herbeiführung einer Entscheidung, sondern als Dialog, „in dem jede Seite sich selbst prüfen und auch nach geistlicher Wahrheit in der jeweils anderen Position suchen soll und kann.“
Trotzdem war auch impliziert, dass für die „aufgeworfenen grundlegenden Fragen“ eine Lösung gefunden werden musste – die nur nicht durch eine Mehrheitsentscheidung herbeigeführt werden sollte.
ähnlich wie der KL-Beschluss sollte auch der GP also die theologische Spannung nicht in eine Richtung auflösen, sondern nach seelsorgerlich-zwischenmenschlichen Wegen der Verständigung suchen. Im Lichte des Ergebnisses der AG „Homosexualität in biblischem Verständnis“, dass es im Blick auf das Schriftverständnis verschiedene Möglichkeiten gibt, die gleichermaßen biblisch und theologisch begründbar sind, ist diese Entscheidung plausibel. Die Möglichkeit einer Rücknahme des KL-Beschlusses als Konsequenz des GP hätte diesen zu einer Art „Volksentscheid“ gemacht, der mit dem synodalen Prinzip kaum vereinbar wäre.
3.1.4 Stellungnahme der SBI zur Synode
Die SBI war dennoch nicht ohne Weiteres bereit, den GP in dieser Form zu akzeptieren. Am Tag nach der Synode veröffentlichte diese eine Stellungnahme.
Zwar wurde der Gesprächsprozess an sich begrüßt, „[m]it Bedauern“ sah man „jedoch [die Einzelfallösung]. Nach unserem Schriftverständnis ist praktizierte Homosexualität mit der Heiligen Schrift nicht vereinbar. Wir erwarten, dass auch dieser Punkt im angestrebten Gesprächsprozess weiterhin eine Rolle spielt.“
Der auf der Synode gefundene Kompromiss war also für die SBI nicht im Blick auf den KL-Beschluss gültig. Die noch auf der Synode wahrgenommene „Zustimmung zu diesem Ausgleich“ stellte sich als Wunschvorstellung heraus. Außerdem wurde die Zielsetzung der Synode für den GP durch die SBI trotzig übergangen. Dies kann damit erklärt werden, dass die SBI die Einsicht der AG von vornherein ablehnte, dass es innerhalb der Landeskirche mehrere biblisch begründbare Positionen zur Frage der Homosexualität gebe. In einem Hintergrundgespräch erklärt SBI-Sprecher Gaston Nogrady, dass nach der Synode in der SBI „eine Art Katerstimmung“ aufkam. Im Leitungskreis der SBI sei der durch Rentzing errungene Kompromiss hoch umstritten gewesen. Mit ihrer Stellungnahme positionierte sich die SBI weiterhin als innerkirchliche Opposition gegen den KL-Beschluss. In gewisser Weise war dies für das Fortbestehen der SBI auch unumgänglich, war doch der Protest gegen den Beschluss maßgebliches einendes Charakteristikum der Mitgliedsverbände der SBI gewesen.
3.2 Die Steuerungsgruppe
3.2.1 Einsetzung der Steuerungsgruppe
Um den GP zu koordinieren, berief das Landeskirchenamt eine Steuerungsgruppe, die im Juli 2012 ihre Arbeit aufnahm. Mitglieder waren Johannes Berthold und Carsten Rentzing von der SBI sowie aus dem Landeskirchenamt Peter Meis, Klaus Schurig und Dietrich Bauer, der die Leitung übernahm.
Die Steuerungsgruppe hatte die Aufgabe, die „Beteiligung aller Kirchgemeinden am Gesprächsprozess zu fördern“ und Dienste, Werke und Einrichtungen der Landeskirche anzuleiten, „Materialien und Veranstaltungen im Rahmen des Gesprächsprozesses anzubieten.“ Es wird deutlich, dass die Steuerungsgruppe vor allem die Einbeziehung der Gemeindeglieder in den GP zum Anliegen hatte.
3.3 Die SBI als Partner und Kontrahent der Kirchenleitung
Die SBI arbeitete während des GP parallel zur Steuerungsgruppe der Kirchenleitung. Auch sie organisierte Vorträge, Gemeindeveranstaltungen, einen Newsletter, Materialsammlungen und sogar regionale Ansprechpartner. In diesem Sinne wurde die SBI von der KL als Partner im GP wahrgenommen.
Die SBI veranstalte SBI-Tage, auf denen die verschiedenen konservativen Gruppen innerhalb der SBI vernetzt wurden und der Austausch mit gesamtdeutschen evangelikalen Netzwerken wie der KBG und der DEA gesucht wurde. So hielt zum Beispiel Hartmut Steeb, Generalsekretär der Evangelischen Allianz, ein Referat auf dem SBI-Tag im Oktober 2014 in Chemnitz, welches beinahe apokalyptische Töne anschlug: Islam, „Hinduismus, Buddhismus, Okkultismus, Satanismus, Esoterik“ seien „auf dem Vormarsch“; „der Untergang der Kirche“ scheine „schon gewiss“. Einziger Ausweg sei eine Rückbesinnung der Kirche auf ihre ursprünglichen Werte. Dazu gehöre, der Bibel zu glauben, in der man Gottes Willen „schwarz auf weiß besitzt“.
Tendenziell lässt sich sagen, dass die offiziellen Stellungnahmen der SBI überwiegend konstruktiv waren, während es eher die Peripherie der SBI-Unterstützer oder Gäste von außerhalb waren, die extremere Positionen vertraten. Gleichzeitig eröffnete die SBI in ihren Stellungnahmen aber auch eine Ambivalenz, die es radikaleren Personen und Gruppen innerhalb der Landeskirche ermöglichte, im Namen der SBI den GP zu sabotieren oder fundamentalistische Positionen zu propagieren. Die SBI distanzierte sich in der Regel nicht oder nur halbherzig von homosexuellenfeindlichen oder fundamentalistischen Aussagen ihrer Unterstützer. Paradebeispiel für diese Ambivalenz war der Fall von Lutz Scheufler. Aber auf der Internetseite der SBI wird bis heute auch auf Texte verwiesen, die etwa die „Heilung“ homosexueller Menschen bewerben.
Die SBI als Sammlung verschiedenster evangelikaler Strömungen diente jedoch auch als mäßigendes Element der konservativen Fraktion im GP – zumindest die Einheit der Kirche betreffend. Häufig wurde die Unterstützung des GP zugesichert und Mitglieder und Sympathisanten der SBI aufgerufen, die Kirche nicht zu verlassen.
Aufgrund dieser ambivalenten Konstellation war die SBI zugleich Partner und Kontrahent der KL im Gesprächsprozess.
3.4 Die Affäre um Lutz Scheufler und das Evangelisationsteam
3.4.1 Die Stellungnahme des Evangelisationsteams
Etwas mehr als einen Monat nach Abschluss der Frühjahrssynode, noch bevor die Steuerungsgruppe des GP ihre Arbeit aufnehmen konnte, gab das sogenannte Evangelisationsteam (ET) am 1. Juni eine Stellungnahme heraus. Das ET war eine lose Vereinigung von Christen innerhalb der Landeskirche. Die meisten Mitarbeiter des Teams waren zugleich bei der Landeskirche oder landeskirchlichen Werken angestellt. Das ET und dessen Förderverein, die „Evangelikale Stiftung“, waren Gründungsmitglieder der SBI. Die Stellungnahme stammte aus der Feder von Jugendevangelist Lutz Scheufler; unterzeichnet wurde sie von sieben Mitgliedern des ET, darunter der durch seinen Widerstand gegen die DDR bekannt gewordene Pfarrer Theo Lehmann.
In seiner Stellungnahme stellte das ET fest, dass „praktizierte Homosexualität mit der Heiligen Schrift nicht vereinbar“ sei. Deshalb sei durch den KL-Beschluss der „status confessionis“ gegeben. Daraus folgten für das ET zwei Feststellungen:
„1. Den Landesbischof, die Kirchenleitung und die Landessynode erkennen wir nicht mehr als geistliche Leitung unserer Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens an. 2. Die Sächsische Bekenntnis-Initiative bitten wir eindringlich, dass diese umgehend eine Bekenntnissynode gründet.“
Mit dieser Stellungnahme griff das ET nicht nur die Kirchenleitung, sondern die gesamte Leitungsebene der Landeskirche massiv an. Scheufler und andere bei landeskirchlichen Werken angestellte Unterzeichner verstießen damit vermutlich gegen die „Loyalitätsrichtlinie“ des kirchlichen Arbeitsrechts. Eine Teilnahme am Gesprächsprozess wurde damit außerdem implizit als sinnlos abgelehnt.
Der Begriff „Bekenntnissynode“ knüpfte an die Zeit der Bekennenden Kirche an und verglich die Situation der Landeskirche mit der Auseinandersetzung mit den „Deutschen Christen.“ Die Geschichtsvergessenheit der Stellungnahme reichte jedoch auch in die jüngste Vergangenheit: Der Text stellte es so dar, als hätten die Synodalen der SBI mit Mühe und Not „die totale Öffnung der Pfarrhäuser für homosexuell lebende Pfarrer etwas einschränken“ können – dabei ging es um eine „totale Öffnung“ natürlich nie.
Die SBI wurde durch das ET als Gewährsmann herangezogen. Sie sollte eine Kirchenneugründung veranlassen. Laut Einschätzung des Landeskirchenamts hielt sich das ET selbst „nicht für autorisiert, eine solche Bekenntnissynode einzuberufen.“
3.4.2 Reaktionen
Stellungnahme der SBI
Neun Tage später reagierte die Leitung der SBI auf die Stellungnahme des ET. Sie hatte offensichtlich von den Plänen des ET nichts gewusst (wie die KL auch). In ihrer Reaktion distanzierte sich die SBI ausdrücklich davon, „die geistliche Legitimation unseres Landesbischofs, unserer Kirchenleitung und unserer Landessynode“ in Frage stellen zu wollen. Stattdessen wolle man sich für einen „offenen und ehrlichen Gesprächsprozess“ einsetzen.
Intern hat es in der SBI jedoch Diskussionen über die Notwendigkeit einer Bekenntnissynode gegeben, sonst hätte man kaum zusätzlich erklärt: „Dieser Prozess ist für uns ergebnisoffen. Ebenso schließt er eine Sammlung der bekenntnistreuen Gemeinden, Gruppen und Personen in unserer Landeskirche nicht aus.“ In einem Hintergundgespräch für diese Arbeit erklärte Gaston Nogrady, der geschlossene Austritt der SBI aus der Landeskirche „war schon eine offen diskutierte Frage.“ Eine solche „Sammlung“ kam für die SBI also allerdings für den Fall eines erfolglosen Abschlusses des GP in Frage.
Die SBI blieb weiterhin eng mit dem ET verbunden, 2014 predigte Theo Lehmann auf dem „SBI-Tag“ in Chemnitz, Lutz Scheufler war weiterhin Teil des Leitungskreises der SBI.
Reaktionen der Kirchenleitung und des Landesjugendpfarramts
Landesbischof Jochen Bohl reagierte prompt auf die Erklärung des ET. Die Stellungnahme sei „unverständlich“ und „anmaßend“. Mit deutlichen Worten wies er die Kritik zurück und verurteilte den Text scharf.
Die Antwort des Bischofs schlug einen drastischen Ton an, wie er bisher von Seiten der KL nicht zu hören gewesen war.
Die Kündigung von Lutz Scheufler
Drei Monate später, nach mehreren Gesprächen mit der Kirchenleitung und der SBI, in denen Lutz Scheufler ausdrücklich und mit Nachdruck nicht von den Positionen der Stellungnahme abrückte, wurde sein Dienstverhältnis am 11. September 2012 durch die Landeskirche gekündigt.
3.4.3 Die Folgen der „Affäre Scheufler“
Die Affäre um die Stellungnahme des ET war aus der Perspektive Lutz Scheuflers ein voller Erfolg. Scheufler gab zahlreiche Interviews in der evangelikalen Presse, die ihn teilweise als Märtyrer inszenierte: Scheufler wurde für seine „Gewissensentscheidung“ der Walter-Künneth-Preis der „Kirchlichen Sammlung um Bibel und Bekenntnis Bayern“ verliehen. Scheufler selbst versicherte in einem IdeaSpektrum-Interview, trotz allem Kirchenmitglied bleiben zu wollen. Die Drastik seines Falls (durch krasse Provokation selbst ausgelöst) motivierte gesamtdeutsche evangelikale Netzwerke, sich einzuschalten.
Gleichzeitig eröffnete die „Affäre Scheufler“ einen Einblick in die fundamentalistisch-evangelikale Szene Sachsens, die nicht direkt mit der SBI zusammenarbeitete. Wilfried Gotter, der Geschäftsführer der „Sächsischen Israelfreunde“, verfasste einen „Zwischenruf“, in dem er den Landesbischof einen „Heuchler“ nannte, der „unsere Sächsische Landeskirche kaputtmacht“ und die Worte Gottes „bewusst verfälsche und umdrehe und in kirchliche Verlautbarungen gieße!“ Scheufler und andere würden durch die KL verfolgt, „ähnlich wie seinerseits Luther durch die Inquisition [sic!]“. Gotters Text verband klassisch fundamentalistische Themen wie die „unbedingte Wahrheit der Bibel“ mit homophoben Motiven.
Außerdem zeigte sich, dass besonders Teilen der regionalen Landeskirchlichen Gemeinschaften die SBI inzwischen nicht radikal genug war, da diese als Teil der Synode als mitverantwortlich für den als zu kompromisshaft empfundenen Synodenbeschluss galt. Deshalb begrüßte beispielsweise Rolf Müller, Gemeinschafts-Bezirksleiter in der Region Chemnitz, das „harte Brot“ des ET:
Die SBI selbst hatte ein ambivalentes Verhältnis zu Scheufler, von dessen Forderung sie sich zwar distanzierte, deren Legitimität jedoch energisch und mit teilweise zweifelhaften Argumenten verteidigte – und sie behielt sich vor, Dinge wie eine Bekenntnissynode später möglicherweise selbst zu fordern. Die SBI forderte von der KL statt dienstrechtlicher Maßnahmen eine „geistliche Lösung“ für den Fall Scheufler zu finden; die stattgefundenen Gespräche zwischen KL und Scheufler ließ man dabei nicht gelten. Die SBI stellte sich stets entschieden hinter den GP und gab an, das Gespräch nun noch intensiver führen zu wollen.
In ihrer Untersuchung des „Evangelikalen Protests“ der 60er-Jahre beschreibt Gisa Bauer das damalige Verhalten der westdeutschen Kirchenleitungen als betont moderat, sachlich und selbstkritisch. Evangelikale Positionen wurden ernstgenommen und die Berechtigung ihrer Kritik betont. Behutsam wurde auf Vorwürfe mit Fakten reagiert. Oberstes Ziel der Kirchenleitungen sei die Einheit der Kirche gewesen. Nur selten reagierten Mitglieder der Kirchenleitungen emotional auf Kritik. Diese Beschreibung passt ebenfalls gut auf die Strategie der sächsischen KL im GP. Es kam zwar auch hier auch zu emotionalen äußerungen – die Affäre um Lutz Scheufler war die Situation, in der man einer Eskalation des Konfliktes am nächsten gekommen war –, zu einem Eklat kam es jedoch während des GP nicht.
3.5 Die Thesenreihen als gezielter Impuls der Kirchenleitung
Die erste große konzertierte Aktion des Landeskirchenamts waren die Thesenreihen, die als Anstoß für den GP in den Gemeinden dienen sollten. Die jeweils zwanzig Thesen stammten von den Steuerungsgruppenmitgliedern Peter Meis und Carsten Rentzing. Rentzings Thesen vertraten ein SBI-gemäß konservativ-lutherisches Kirchen- und Schriftverständnis, während Meis’ Thesen einen liberaleren Entwurf und ein Plädoyer für eine „veränderte Bewertung der Homosexualität“ formulierten.
Die Absicht der KL war, mit Hilfe der Thesenreihen das Gespräch in Gang zu bringen. Dies ist auf jeden Fall gelungen. Laut Abschlussbericht der Steuerungsgruppe wurden die Thesen häufig in Gemeindeveranstaltungen als Aufhänger genutzt.
Die Thesenreihen offenbarten die Asymmetrie des GP. Die Thesen von Carsten Rentzing blieben weitgehend unbeantwortet, während die Thesen von Peter Meis heftiger Kritik ausgesetzt waren.
Außerdem gab die Reaktion auf die Thesenreihen einen weiteren Einblick in das theologische Profil der SBI-Befürworter. Die Konsequenzen des immer wieder beschworenen „status confessionis“ wurden hier konkretisiert.
Die Ausrufung eines status confessionis bedeute in letzter Konsequenz, der KL Irrlehre vorzuwerfen. Die Diskussion um die Thesen von Peter Meis sowie die Affäre um Lutz Scheufler zeigten, dass Teile der SBI sehr wohl bereit waren, diesen Schritt zu gehen.
In dieser Situation war der GP formal überfordert. Der GP wollte eine gegenseitige Verständigung, eine „Formulierung der Glaubensaussagen und -erfahrungen, die uns ermöglichen, beieinander zu bleiben“. Die Erklärung des status confessionis stellte die faktische Verweigerung dieser Verständigung dar.
3.6 Die Aufnahme des Gesprächsprozesses in den Gemeinden
3.6.1 Veröffentlichungen aus den Gemeinden
Auf der Internetseite der Landeskirche wurden Dokumente über den GP gesammelt, die als Dokumentation dienen und einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Die SBI unterhielt auf ihrer Internetseite eine ähnliche Sammlung.
Insgesamt liegen nur sehr wenige Texte aus der kirchlichen Basis als Quelle vor, obwohl es Hinweise gibt, dass relativ viele Gemeindeveranstaltungen zum GP stattfanden. Das lag unter anderem an der Hemmschwelle für Laien, sich am theologischen Diskurs zu beteiligen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel von Andreas Rau, der für die Kirchgemeinde Auerswalde ein eigenes Thesenpapier formulierte, nicht ohne sich zuvor ausführlich für sein Laientum zu rechtfertigen (und es gleichzeitig gewitzt als Stärke umzudeuten):
„Das Maul des Volkes redet gerade heraus, was es denkt; wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Es redet nicht, wie Akademiker reden; erst recht nicht wie Diplomaten reden. Es redet ungeschickt, unbeholfen, poltrig; im Grunde stammelt es nur. Aber dieses Maul ist ein ehrliches Maul. Es sagt, was auf der Seele brennt.“
Für Gruppen wie Junge Gemeinden, Bibelkreise und Kirchenvorstände war dieser Druck weniger stark, da man nicht als Einzelperson auftrat, sondern als kirchliches Organ. Auch gern genutzt war die Form des Leserbriefs, des Blogs oder des Internetkommentars als informellere Veröffentlichungsform. Unter den gesammelten Stellungnahmen finden sich vor allem solche von SBI-Organisationen und Gemeinden mit SBI-Pfarrern, die sich deutlich und pointiert gegen den Kirchenleitungsbeschluss positionierten. In diesen Stellungnahmen wurde nicht zufällig immer wieder auch die Forderung der Markersbacher Erklärung wiederholt.
Dass die Stellungnahmen überwiegend aus konservativer Richtung kamen, lässt sich am ehesten damit erklären, dass liberalere Gemeinden eher mit dem status quo einverstanden waren, wohingegen Konservative sich in einer Protesthaltung (gegen den KL-Beschluss) befanden. Außerdem wird die gezielte Organisation und Ermutigung durch SBI-nahe Pfarrer und Mitarbeiter nicht unmaßgeblich gewesen sein.
3.7 Die Rolle des Internets
3.7.1 Das Internet als Ort des Gesprächs
Der Teil des GP, der im Internet stattfand, wurde sowohl von der KL als auch der SBI kaum erfasst. Und das, obwohl die durch diese Untersuchung berücksichtigten Online-Diskussionen quantitativ einen beträchtlichen Teil der Quellenbasis stellen. Der Abschlussbericht der Steuerungsgruppe lässt nicht erkennen, dass diese Diskussionen wahrgenommen oder in irgendeiner Weise „gesteuert“ wurden.
3.7.2 Diskussionen in der „Sonntag“-Kommentarspalte
„Wer befürchtet haben sollte, dass es beim Gesprächsprozess über die Heilige Schrift brav wie im Bibelkreis zugeht, den belehren die Lesermeinungen auf der Internetseite des Sonntag eines besseren. Bibelstellen sitzen dort mitunter wie Faustschläge – freilich mit fromm gehäkelten Handschuhen.“ – Andreas Roth, Chefredakteur des „Sonntag“
Ein zentraler „Ort“, an dem dieser Teil des GP stattfand, war die Internetseite des „Sonntag.“ Unter den meisten Artikeln gab es die Möglichkeit, Leserkommentare zu hinterlassen. Teilweise finden sich unter Artikeln zum GP hunderte, ja tausende solcher Kommentare. Insgesamt wurden wohl zehntausende Kommentare verfasst. Von der Redaktion des „Sonntag“ wurde diese Entwicklung nicht intendiert, aber zugelassen.
Wie kam es zu so astronomischen Zahlen? Die Kommentierenden hatten sich gewissermaßen verselbstständigt. Einer von ihnen, Christoph Adam, versuchte sich an einer Analyse:
„Die Inhalte der Gespräche waren anfänglich bestimmt vom Inhalt der Artikel, auf die sie sich bezogen. Doch schnell folgten Antworten auf Meinungsäußerungen, Gegenfragen, Statements, die nur noch wenig direkt mit dem Ursprungsthema zu tun hatten. Als große Klammer des Gesprächsinhaltes fungierte aber durchweg der Gesprächsprozess in der sächsischen Landeskirche.“
Adam beschrieb diese Diskussionen als ein Aufeinandertreffen der „ganze[n] Bandbreite geistlicher Positionierungen.“ Am Schluss stand für ihn die Feststellung, dass sich die verschiedenen Positionen im Schriftverständnis diametral entgegenstehen. Immerhin konnte Adam, obwohl er sich selbst klar auf einer Seite des „Grabens“ verortete, beide Positionen referieren und nachvollziehen.
Für diejenigen, die sich aktiv beteiligten, schienen diese Internet-Diskussionen ein enormes emotionales Gewicht zu tragen. Für Adam war die „Sonntag“-Kommentarspalte die intensivste ihm bekannte Manifestation des GP. Für den bereits erwähnten Laien Andreas Rau waren die virtuellen Gespräche so bedeutsam, dass er auf seiner persönlichen Internetseite Bilanzen der einzelnen Protagonisten und zahlreiche Auszüge aus deren Debatten sammelte.
Eine Versöhnung im Sinne einer Einigung sucht man auch während dieser Internet-Diskussionen vergeblich. Es finden sich Anzeichen von Annäherung auf der menschlichen Ebene, aber die inhaltlichen Verurteilungen zogen sich wie ein roter Faden durch die Kommentarspalten.
Nicht wenige der Diskutanten traten unter ihrem vollen Namen auf. Der Großteil der Beiträge wurde jedoch anonym oder pseudonym verfasst – für Kommentare im Internet nicht unüblich. Außerdem die Hemmschwelle senkend wirkte der Eindruck, dass man nicht „offiziell“ am GP teilnehme, sondern ein separates, möglicherweise weniger voraussetzungsreiches Gespräch führe.
Dass diese Form des GP durch die Kirchenleitung nicht moderiert, gefördert oder auch nur wahrgenommen wurde ist bedauerlich – waren es doch gerade diese virtuellen, aber intensiven und langfristigen Unterhaltungen, in denen es zu Begegnungen auf der zwischenmenschlichen Ebene kam. Nirgendwo sonst wurde der GP mit solchem Eifer und zugleich so basisnah geführt.
3.8 Der Abschluss des Gesprächsprozesses
Im Februar 2015, knapp drei Jahre nach Eröffnung des GP, legte die Steuerungsgruppe ihren Abschlussbericht der inzwischen 27. Landessynode vor. Zur Auswertung des GP war ein Fragebogen an die regionalen Multiplikatoren verteilt worden. Dieser zehnseitige Bogen erfasste die Zahl und Art der durchgeführten Veranstaltungen und ließ reichlich Platz für die Erhebung der „Wahrnehmung der Situation“, wo nach gefundenen Konsensen und Dissensen gefragt wurde. Insgesamt wurden laut Steuerungsgruppe jedoch „nur aus zehn von 18 Kirchenbezirken Fragebögen zurückgesandt“. Dies widerspiegelt, dass der GP regional sehr unterschiedlich intensiv geführt wurde.
Der Abschlussbericht merkte an, dass der GP in nicht wenigen Regionen kaum eine Rolle gespielt hatte. Dafür wurden verschiedene Gründe genannt. Teilweise habe es ängste gegeben, den Gemeindefrieden zu stören. Der bedeutendste Grund jedoch sei gewesen, dass „aus vielen Kirchgemeinden ,Gesprächsmüdigkeit und Desinteresse‘ signalisiert“ wurde. „Die breite Masse der Kirchenglieder verfolgt dieses Thema nicht oder nur wenig“, resümierte der Bericht. Es gab mitunter Zweifel am Sinn des GP, „da die ,inhaltlichen Prozesse schon vorbei‘ seien“.
Zusammenfassend sei der GP an der Basis „als zu lang empfunden“ worden, habe sich dem Vorwurf der Sinnlosigkeit ausgesetzt gesehen, sei für viele schmerzhaft gewesen, habe einige dazu gebracht, die Kirche zu verlassen oder sei gänzlich ignoriert worden. Wo er geführt wurde, habe der GP „die jeweiligen geistlich-theologischen Grundüberzeugungen kaum verändert“. Die eigentliche Aufgabe des GP, nämlich aufzuzeigen, „dass im Blick auf biblische Argumentationslinien unterschiedliche Positionen möglich und jeweils biblisch verantwortet sind“, müsse laut der Steuerungsgruppe „am Ende dieses Gesprächsprozesses offen bleiben.“
Auffällig ist, dass der Abschlussbericht der Steuerungsgruppe im Blick auf seinen eigenen Befund ein massiv beschönigendes Fazit formulierte: Insgesamt soll der Gesprächsprozess „Wesentliches erreicht“ haben: es sei immerhin deutlich geworden, dass die Bibel eine große Bedeutung für die Landeskirche habe.
Die Abschlusserklärung der Synode zog ein ernüchternderes Fazit: der GP sei „in verschiedener Hinsicht schwierig und schmerzvoll“ gewesen. Die Synode beschloss einstimmig, dass trotz der unüberbrückbaren Differenzen die unterschiedlichen Positionen innerhalb der Landeskirche unter Schutz gestellt werden sollten.
Die SBI nahm diese Zusage der Synode in einer eigenen Stellungnahme auf. Man wolle auch weiterhin für die Position einstehen, dass die Bibel „gelebte Homosexualität als Sünde vor Gott“ benenne. Etwas trotzig wurde formuliert: „Wir teilen deshalb die Auffassung der Kirchenleitung der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens vom 29. August 2001“. Die SBI existierte also auch weiterhin im Protest gegen den KL-Beschluss von 2012. Das Gespräch wollte man jedoch fortführen: „Ausdrücklich wenden wir uns gegen Rückzug, Resignation oder Kirchenaustritt.“
4 Der Gesprächsprozess aus kybernetischer Sicht
In der Evangelischen Kirche kann von Leitung immer nur so gesprochen werden, dass sie selbst Teil dieser Kirche im Rahmen der Priesterschaft aller Gläubigen ist. Der Praktische Theologe Bernhard Petry formuliert: „Leitung ist nichts anderes als Herstellung und Bewältigung partizipativer Prozesse“. Der GP der sächsischen Landeskirche war ein Ausdruck dieses Leitungshandelns, dass in dem Zwiespalt stand, auf der einen Seite eine zerstrittene Landeskirche zusammen zu halten und gleichzeitig verantwortliche und konstruktive Beschlüsse zu fassen. Dass der GP dabei nicht nur erfolgreich war, zeigte die bisherige Arbeit. Kirchliches Leitungshandeln lässt sich jedoch kaum objektiv bewerten oder dessen Wirksamkeit im empirischen Sinne bestimmen. Deshalb sollen im Folgenden lediglich exemplarisch Probleme dargestellt werden, die den GP als kirchenleitendes Handeln negativ beeinflussten.
4.1 Das Problem des ergebnisoffenen Gesprächsprozesses
Der Abschlussbericht der Steuerungsgruppe nannte als einen der Gründe für wenig Engagement im GP, dass die „inhaltlichen Prozesse schon vorbei“ gewesen seien. Damit ist angespielt auf die Frage, ob ein GP bereits vor dem Beschluss die Pfarrhäuser zu öffnen hätte stattfinden müssen. In die gleiche Kerbe schlug auch Andreas Roth, der im „Sonntag“ kritisierte, dass der GP nicht fruchten konnte, weil die KL mit ihrem Beschluss bereits „Fakten geschaffen“ habe.
Jochen Bohl erklärte in einem späteren Interview ebenfalls, dass er eigentlich vor einem Kirchenleitungsbeschluss eine Diskussion in der Landeskirche auf Grundlage der Ergebnisse der AG „Homosexualität in biblischem Verständnis“ befürwortet hatte, jedoch von der KL überstimmt worden sei. Und auch die Abschlusserklärung des Vorsitzenden des theologischen Ausschusses Thomas Knittel auf der Frühjahrssynode 2015 empfahl, in Zukunft „in geistlich-theologischen Fragestellungen zeitig einen offenen Diskurs zu führen.“
War die Entscheidung der KL also aus kybernetischer Sicht falsch, 2012 die bedingte Öffnung der Pfarrhäuser für homosexuelle Paare zu beschließen? Zum Synodalen Prinzip, dem sich die KL verpflichtet sah, gehört die Rede von der „Einmütigkeit“ von Entscheidungen, damit es in der Kirche nicht zu demokratischen Machtkämpfen kommt. Bei Entscheidungen, in denen keine Einmütigkeit hergestellt werden kann, ist es laut Hauschildt/Pohl-Patalong für eine KL geboten, entweder einen Kompromiss herbeizuführen oder „deutlich in eine Richtung hin zu entscheiden, aber ebenso klar der Minderheit Schutz einzuräumen.“ Auch im Fall des Kirchenleitungsbeschlusses von 2012 war nicht abzusehen, dass eine Synodalversammlung eine einmütige Entscheidung würde treffen können. Insofern scheint die Entscheidung der KL angemessen.
Kritikwürdig ist hingegen die wiederholte Behauptung der KL, man habe den Beschluss von 2001 „fortgeschrieben“. Damit stellte man sich nur halbherzig hinter die getroffene Entscheidung. In der Rezeption wurde dies nicht selten als Verschleierungsversuch gewertet. Faktisch wurde eine zentrale Regelung des alten Beschlusses durch die KL aufgehoben oder zumindest eingeschränkt.
4.2 Die formelle und inhaltliche Asymmetrie des Gesprächsprozesses
Der Konflikt innerhalb der sächsischen Landeskirche war im Grunde kein Konflikt zwischen „liberalen“ und „konservativen“ theologischen Auffassungen, sondern zwischen Pluralität und Ablehnung von Pluralität. Die SBI forderte, andere Ansichten als die eigene im Blick auf Homosexualität nicht innerhalb der kirchlichen Praxis zuzulassen, während die KL sich für ein gleichberechtigtes Nebeneinander der Positionen einsetzte.
Die KL wollte mit dem GP nicht verschiedene Auslegungsvarianten diskutieren, sondern „ein vertieftes Kennenlernen“ und „Austausch und Begegnung zwischen Menschen“ ermöglichen. Die SBI-Gruppe konnte diese Rahmenbedingungen nicht akzeptieren, weil sie den vorausgesetzten Willen zur Pluralität nicht teilte; viele liberalere Kirchgemeinden sahen wiederum keine Notwendigkeit, gegen die SBI für die Existenzberechtigung ihrer theologischen Ansichten zu streiten.
Inhaltlich schlug sich diese Asymmetrie während des GP darin nieder, dass Mitglieder der SBI wiederholt Schriften veröffentlichten, die dem theologischen Gegner Irrtümer und sogar Irrlehren nachzuweisen versuchten, während es nur wenige Veröffentlichungen von Befürwortern des Kirchenleitungsbeschlusses gab. (Dafür, dass beispielsweise das Schriftverständnis der SBI als problematisch oder gar gefährlich abgelehnt wurde, gibt es nur wenig Belege.) Deshalb waren es schlussendlich maßgeblich nur Vertreter der KL selbst, die mit der SBI den GP führten. Die breitere kirchliche Basis hingegen war an diesem Konflikt nicht beteiligt. Trotzdem tat die KL stets so, als wäre die SBI ihr Partner, mit dem gemeinsam sie den Gesprächsprozess mit der Basis führt.
4.3 Die „Appeasement-Politik“ der Kirchenleitung
Es lässt sich Fragen, ob ein solcher auf Verständigung angelegter GP der richtige Umgang mit einer evangelikalen Protestpartei ist. Die Grundhaltung der KL, dass auch die Ablehnung von Pluralismus in eine theologisch plurale Landeskirche integrierbar sein müsse, machte es ihr teilweise schwer, extremen Auswüchsen wie fundamentalistischen, homophoben oder Homosexualität pathologisierenden Argumentationen entschieden entgegenzutreten.
Gleichzeitig entfremdete die KL mit dieser Strategie auch Teile der Landeskirche. Die grundsätzlich anerkennende Haltung der KL gegenüber sämtlichen Positionen im GP führte dazu, dass kaum eine Abgrenzung von theologischen Positionen geschah, die in einen Diskurs auf Augenhöhe nicht integrierbar waren. Insbesondere kam es kaum zu einer Inschutznahme homosexueller Menschen vor theologisch verbrämten homosexualitätsfeindlichen Angriffen. Die Folgen für das Vertrauen homosexueller Pfarrerinnen und Pfarrer in die Landeskirche waren teilweise verheerend. Mehrere erklärten in Folge der Ereignisse ihren Wechsel in andere Landeskirchen; bis heute lebt keine einzige Pfarrerin oder Pfarrer eine homosexuelle Partnerschaft in einem sächsischen Pfarrhaus.
Einen ähnlichen Vorwurf muss sich auch die SBI gefallen lassen. In ihren offiziellen Stellungnahmen warb die SBI zwar meistens für ein gemäßigtes konservatives Profil, bot jedoch eine Plattform für Personen mit homophoben oder fundamentalistischen Ansichten, ohne dass eine offizielle Abgrenzung in diese Richtung oder eine theologische Reflexion dieses Umstandes stattgefunden hätte.
Gisa Bauer plädiert dafür, den Evangelikalismus als innerkirchliche „Neue soziale Bewegung“ zu verstehen, welche sogar „Indikator“ für die Vitalität einer Kirche sein kann. Wenn es stimmt, dass „[w]as heute von evangelikaler Seite kritisiert wird, […] anderen Evangelikalen oder morgen denselben Evangelikalen als Identitätsmerkmal gereichen“ kann, leuchtet die Strategie der KL möglicherweise langfristig ein. Die personellen Opfer, welche man dafür in Form von die Landeskirche wechselnden Pfarrerinnen und Pfarrern darbrachte, können dadurch jedoch schwerlich aufgewogen werden.
Berücksichtigt werden muss, dass einschlägige kirchentheoretische Entwürfe für inhaltliches kirchenleitendes Handeln als maßgebliches Kritierium „Diskursivität“, also die „erkennbare Bemühung um die inhaltliche Verständigung aller Beteiligten“ ansetzen. Ein an und mit der kirchlichen Basis geführter Gesprächsprozess bleibt also grundsätzlich eine angemessene Form des Umgangs mit innerkirchlich-evangelikalen Protestbewegungen.
4.4 Der Status Confessionis
Ihre Grenze fand die theologische Nichteinmischung der KL in diesen Diskurs da, wo die Einheit der Kirche gefährdet wurde. Die KL erkannte die Dringlichkeit des Problems des „status confessionis“ allerdings nicht sofort. Sie hatte offenbar nicht erwartet, dass im Blick auf den status confessionis und die grundsätzliche Einheit der Kirche kein Konsens bestehen würde.
In den Quellen findet sich das Stichwort des status confessionis zu Beginn nur in zahlreichen Texten der KL selbst, die erklärten, dass der status confessionis in der aktuellen Frage keine Rolle spiele, da es sich um eine ethische Frage handle.
Trotzdem protestierten Mitglieder der SBI von Anfang an mit unterschiedlicher Vehemenz gegen diese Feststellung.
In offiziellen Mitteilungen der SBI wurde der status confessionis nie explizit ausgerufen, dennoch wurde diese Möglichkeit immer wieder angedeutet. Einzelne Mitglieder der SBI wie das Evangelisationsteam konkretisierten diese Ambivalenz dann in Richtung einer mehr oder weniger theologisch reflektierten Erklärung des status confessionis.
Die Zielsetzung des GP berücksichtigte die Frage des status confessionis nicht. Zwar war die Stärkung der Einheit der Kirche ein wichtiges Anliegen, man war jedoch nicht darauf vorbereitet, mit einer Erklärung des status confessionis oder einer Infragestellung der Kirchengemeinschaft umzugehen. Die Steuerungsgruppe agierte unter der Annahme, dass nur ein Missverständnis dazu führen könne, ein Beieinanderbleiben unmöglich zu machen. Dies war, wie die Steuerungsgruppe selbst eingestand, eine Fehleinschätzung.
Gleichzeitig war es aus kirchenleitender Sicht angemessen, die Rede von einem status confessionis oder gar separationis nicht vorschnell zu legitimieren. Die Einheit der Kirche hatte für die KL zurecht Priorität.
5 Ausblick
Der Gesprächsprozess der sächsischen Landeskirche zum Schrift- und Kirchenverständnis mag formal abgeschlossen sein, die dahinterliegenden Konflikte bestehen jedoch bis heute. Die knappe Wahl des SBI-Mitglieds Carsten Rentzing zum Landesbischof 2015 demonstrierte den Einfluss, den die SBI inzwischen in den landeskirchlichen Strukturen hatte – und aktivierte liberale Kräfte wie den Leipziger Pfarrer Christoph Maier, der gemeinsam mit Gleichgesinnten das liberale „Forum für Gemeinschaft und Theologie“ gründete, ein Gegengewicht zur Bekenntnis-Initiative.
Die Lage hat sich für den Moment beruhigt. In einem aktuellen Interview schlug der jetzige Landesbischof Carsten Rentzing auch vorsichtig selbstkritische Töne an:
„Ich glaube, der Kompromiss [des KL-Beschlusses von 2012] wird längere Zeit Bestand haben. Es haben sich die Wogen geglättet, weil Befürchtungen nicht eingetreten sind. Vielleicht lag die KL nicht so falsch - ich gebe zu, dass ich selbst da skeptisch war und auch theologische Nachfragen hatte und habe. Aber ich glaube, dass man mittlerweile einen Modus Vivendi gefunden hat.“
Es wird sich zeigen, ob der derzeitige „Modus Vivendi“ der Landeskirche auch bestehen bleiben wird, falls die KL demnächst einen Beschluss zur öffentlichen Segnung homosexueller Partnerschaften vorlegen wird, wie er seit einiger Zeit in Dresden diskutiert wird.