Zachäus

Zachäus saß auf dem Dach seines Anwesens in der Mittagssonne und überblickte die Stadt mit einem kühlen Krug Wein in der Hand. Sein Haus war das höchste des ganzen Viertels – angemessen für einen Mann seiner Stellung, wie er meinte. Er war der oberste Zöllner der Stadt. Er war nicht der beliebteste, dafür aber einer der reichsten Einwohner, weil er hin und wieder Zolleinnahmen in seine eigene Tasche wandern ließ. Er parkte seinen Krug auf seinem beachtlichen Bauch, um seine Arme genüsslich von sich zu strecken. Für seinen Körperumfang war Zachäus ein kleiner Mann, mit kahlem Kopf und rundem Gesicht. Aber er wusste, dass es nicht auf äußerlichkeiten ankommt, wenn einer soviel Geld hat wie er.

Plötzlich kam einer seiner Laufburschen zu ihm aufs Dach geklettert. „Meister Zachäus!“, rief der Junge, noch ganz außer Atem, „Eben habe ich erfahren, dass Jesus von Nazareth auf dem Weg in die Stadt ist. Er wird schon bald durch das Osttor kommen!“ Zachäus hatte schon von diesem Jesus gehört. Besonders reich sollte Jesus nicht sein, ein Zöllner konnte sich also leider nicht viele Einnahmen von ihm und seinen Begleitern erhoffen. Aber er schien beim einfachen Volk sehr beliebt zu sein. Deshalb warf er dem Laufburschen einen Silbergroschen zu und sagte ihm „Ich werde mich gleich zum Tor der Stadt begeben, um diesen Jesus zu empfangen. Wenn ich bei ihm einen guten Eindruck hinterlassen kann, verbessert das vielleicht auch mein Ansehen beim einfachen Volk. Bring mir meine Schuhe und mein bestes Gewand!“

Als Zachäus am Stadtrand ankam, staunte er nicht schlecht. Um das Tor hatte sich eine riesige Menschenmenge gebildet, sodass er nicht bis an das Tor herantreten konnte. Weil er so klein war, konnte er von dort wo er stand das Tor noch nicht einmal sehen.

Die Menschen in der Menge unterhielten sich aufgeregt miteinander. Es hatte sich herumgesprochen, dass Jesus in die Stadt kommen würde. Man erzählte sich, dass Jesus Kranke geheilt hatte nur mit einer Berührung, dass Blinde plötzlich wieder sehen und Gelähmte sich wieder bewegen können. Manche behaupteten sogar, dass Jesus bald König in Israel sein würde! Alle waren so aufgeregt Jesus mit eigenen Augen zu sehen, dass sie den kleinen Zachäus gar nicht bemerkten.

„So lasst mich durch, Gesindel! Ich muss unseren Gast angemessen empfangen. Macht einen Weg frei!“, rief Zachäus mit schriller Stimme. Aber keiner der Leute vor ihm drehten sich auch nur zu ihm um. Sie alle waren viel zu aufgeregt und miteinander beschäftigt. Er versuchte noch ein paar mal, sich Gehör zu verschaffen, aber es war vergebens.

Zachäus versuchte, auf der Stelle zu hüpfen um wenigstens zu erkennen, ob Jesus überhaupt schon da wäre. Sport war aber nie seine seine Stärke und seine mickrigen Hopser reichten kaum bis zu den Schultern seines Vordermanns.

Da erblickte Zachäus einen kleinen Baum am Rande der Menge, klein und kahl wie er selbst. Er könnte daran heraufklettern und hätte von dort aus sicher gute Sicht. Aber von dort könnten ihn auch alle anderen Leute sehen, wie eine fette Frucht würde er an dem Baum hängen und zum Gespött der Leute werden. Nein, jemand in seiner Position konnte sich so etwas nicht leisten.

Zachäus sah sich um nach einer anderen Möglichkeit, eine bessere Sicht auf das Tor zu bekommen. Sein Blick fiel auf einen Esel, der ein paar Meter weiter herumstand. „Vom Rücken des Esels aus würde ich bestimmt besser sehen können. Außerdem würde ich einen würdevollen Eindruck machen, wenn ich diesem Jesus beritten gegenüberträte,“ dachte sich Zachäus und machte sich auf zu dem Tier. Noch immer hatte ihn niemand wirklich bemerkt, deshalb ergriff er den Sattel des Gauls und zog sich auf seinen Rücken. Der Esel nahm die plötzliche zusätzliche Belastung gelassen hin. Jetzt konnte der Zöllner endlich über die Köpfe der Menge hinweg die Mauer der Stadt erblicken und darin das Tor. Gerade in diesem Augenblick meinte er erkennen zu können, wie sich die Torflügel langsam öffneten.

„Hey, was soll das werden?“, rief plötzlich eine empörte Stimme. Zachäus fuhr herum. Die Stimme gehörte zu dem Mann, der die Zügel des Esels hielt – den Zachäus erst jetzt bemerkte. „Willst du mir jetzt auch noch den Gaul wegnehmen, nachdem du gestern schon den Löwenanteil von meinem Gepäck als Zoll eingesackt hast? Mach das du hier wegkommst.“ Und er schob Zachäus recht unsanft vom Rücken des Esels und mit einem dumpfen Schlag fiel Zachäus auf den staubigen Boden. Schnell rappelte er sich wieder auf. Unter anderen Umständen hätte er so einen Demütigung nicht einfach so über sich ergehen lassen. Aber weil er die Aufmerksamkeit der Menge nicht auf sich ziehen wollte, machte er sich taumelnd, seine Kleider abstaubend, aus demselben.

Die Zeit lief ihm davon. Jesus konnte jeden Moment die Stadt betreten. „Jetzt komme ich nie noch rechtzeitig bis an das Tor heran. Ich muss doch wenigstens sehen, was es mit diesem Jesus auf sich hat!“, jammerte er zu sich selbst. Verzweifelt suchte er nach einer anderen Möglichkeit. Sein Blick fiel wieder auf den kleinen Baum. „Ich kann doch nicht auf einen Baum klettern – ich bin doch kein kleines Kind!“ Ein paar Momente stand Zachäus wie angewurzelt da, dann gab er sich einen Ruck. Er war einfach zu neugierig.

Zachäus versuchte also auf den Baum zu klettern. Das gestaltete sich komplizierter als gedacht, denn er konnte mit seinen kurzen Armen den niedrigsten Ast kaum erreichen. Nach ein paar vergeblichen Versuchen gelang es ihm den Ast zu ergreifen – der sich unter seinem Gewicht bedenklich bog – und sich unter größter Anstrengung hinaufzuhieven. Er wollte gerade den nächsthöheren Ast erklimmen, als er von unter seinem hölzernen Ausguck jemanden kichern hörte. Ein kleines Mädchen hatte sich am Rande der Menge herumgedreht und ihn am Baum entdeckt. „Wirst du wohl still sein!“, zischte er vom Baum herunter das Kind an. Das letzte was er jetzt wollte war, dass alle auf ihn aufmerksam wurden. Aber das Mädchen kicherte jetzt nur noch lauter. Da fingen die Leute an, sich zu dem kleinen Bäumchen herumzudrehen, an dem Zachäus sich ungeschickt festklammerte. Einige begannen auf ihn zu zeigen und zu lachen. „Ist das nicht der Zöllner Zachäus? Ha, ich wusste gar nicht, dass der so klettern kann.“ Als Zachäus die spöttischen Leute unter ihm sah, kam er erst recht ins Schwitzen. War es das Wert sich so zu blamieren, nur um diesen Jesus zu sehen? „Schaut nur, Leute, da auf dem Baum hängt unser hoch erhabener Oberzöllner Zachäus.“ Verzweifelt huschte Zachäus’ Blick hin und her auf der Suche nach einem Ausweg aus seiner Lage. Aber höher konnte er nicht klettern, und unter ihm war alles voller Menschen, so dass an runterklettern nicht zu denken war. Das Gelächter der Menge wurde immer lauter, bis es Zachäus in den Ohren dröhnte und ihm schwarz vor Augen wurde.

Plötzlich wurde alles ganz still. Zuerst dachte Zachäus, dass er in Ohnmacht gefallen sei, aber als sich der Schleier von seinen Augen löste, bemerkte er, dass die Leute aufgehört hatten zu rufen und auseinander gegangen waren, sodass sich zwischen ihnen ein Gang gebildet hatte, der unter seinem Bäumchen endete. Am Ende der Schneise stand ein einfach gekleideter Mann. Zachäus war sofort klar, dass das Jesus sein musste. Wie peinlich. Ein so besonderer Gast zieht in die Stadt ein und er, der einflussreichste Mann des Ortes hängt an einem Baum wie ein überreifes Obst. Das war so gar nicht sein Plan gewesen. Inzwischen war Jesus bis an das Bäumchen herangetreten. Wenn es stimmte, was Zachäus über Jesus gehört hatte, war er jetzt wohl ein gefundenes Fressen für den Wanderprediger. Jesus war bekannt dafür, dass er in seinen Reden die Reichen hart dran nahm, besonders solche wie Zachäus, die das Recht hier und da bogen, um ihren Reichtum noch zu vergrößern. Zachäus tropfte der Angstschweiß über sein rundes Gesicht, als Jesus anhob und ihm direkt in die Augen schaute.

„Zachäus.“, sprach Jesus den auf dem Baum sitzenden Zöllner direkt an. In seiner Stimme lag kein Spott, kein Hohn. Vielleicht ein Funke Belustigung, aber vor allem Freundlichkeit. Zachäus richtete sich auf, in einem letzten verzweifelten Versuch, eine angemessene Haltung zu bewahren. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so gespannt waren alle auf das, was jetzt passieren würde.

„Komm schon herunter,“ sagte Jesus weiter, „denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.“

Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Übung zum Geschichtenerzählen als Katechese. Dabei sollte aus einem biblischen Text eine spannende Erzählung geformt werden.