Verstümmelte Verse
Vor knapp zwei Wochen bekamen die Herrnhuter Losungen großen ärger: Einige Losungsleser mit Argusaugen hatten entdeckt, dass da doch einer den Losungsvers von 16. März gekürzt hatte: Statt „Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.“ hieß es dort einfach nur „Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann.“
Das wiederum schmeckte einigen von unseres Glaubens Genossen überhaupt nicht. „Verstümmelt“ nannten sie den Losungsvers. Denn das schien einigen Christen, die sich für besonders fromm halten wichtig: Unsere Brüder, das sind doch nicht einfach alle Menschen! Es darf doch nicht sein, dass wir auf einmal diese ganzen Muslime mehr lieb haben als uns selbst!
Wer ist denn mein Nächster?
Auch im Neuen Testament gab es diese Anfrage schon: „Wer ist denn mein Nächster“, fragte ein Schriftgelehrter Jesus. Er wird sich gedacht haben: Mein Nächster, dass wird doch wohl nicht jeder Dahergeflohene sein! Unsere Glaubensgenossen, die haben doch bestimmt Priorität. Da gibt es doch sicher irgendeine Klausel, oder? „Er wollte sich selbst rechtfertigen“, heißt es im Bibeltext.
Jesus erzählt darauf die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Mein Nächster, das ist der Unerwartete. Der, der mir am fernsten scheint.
Im 1. Johannesbrief heißt es über die Liebe:
Daran haben wir die Liebe erkannt, daß er sein Leben für uns eingesetzt hat; auch wir sind schuldig, für die Brüder das Leben einzusetzen. Wer aber den zeitlichen Lebensunterhalt hat und seinen Bruder darben sieht und sein Herz vor ihm zuschließt, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?
„Wer seinen Bruder darben sieht und sein Herz vor ihm zuschließt …“ Wer ist denn mein Bruder? Das wird doch nicht der Muslim sein, der meine Glaubensgeschwister mordet und mein Abendland islamisieren will! – Sollen wir hier etwa wie Schafe unter die Wölfe gesendet werden?
Ob uns das gefällt oder nicht, wir sind dazu berufen, Gottes großes Herz in der Welt zu sein. Und Gottes Herz unterscheidet nicht zwischen „Freund“ und „Feind“, zwischen „Bruder“ und „Fremder“. Gottes Herz unterscheidet jedoch sehr wohl zwischen „Liebe“ und „Lieblosigkeit“. Da gibt es kein Herausreden.