Lessings garstiger Graben
Eine der folgenschwersten religiösen Fragen unserer Zeit ist die nach der „Wahrheit“. Der Streit um die Wahrheit treibt uns dabei vor allem auseinander. Als Weltreligionen, aber auch als christliche Konfessionen. Besonders zu spüren bekommen habe ich diesen Konflikt bei der Frage nach der Wahrheit der biblischen Texte. Ich selbst wurde vor meinem Studium von meinem christlichen Umfeld davor gewarnt, an der Universität Theologie zu studieren: „Da wird einem der Glauben genommen.“ „Die kritische Exegese maßt sich an, an Gottes Wort herumzubasteln.“ Auch im Studium begegneten mir hier und da von Seiten der Studierenden Widerstände gegen die Infragestellung biblischer „Wahrheiten,“ etwa der leiblichen Auferstehung Jesu: „Wenn Christus nicht auferstanden ist, dann ist unser Vertrauen auf Gott vergeblich!“, wurde da gesagt. Die biblische Überlieferung müsse historisch wahr sein, denn sie sei Gottes Wort, das Fundament unseres Glaubens.
Der Aufklärungsphilosoph Gotthold Ephraim Lessing hat dieser Frage einen interessanten Dreh gegeben. In seinem Werk „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“ (1777) beschrieb er einen „garstigen, breiten Graben“ im Herzen aller Theologie – ein Graben zwischen Glauben und historischer Beweisbarkeit desselben.
Geschichte ist, so Lessing, auf Grund ihres „Vergangen-Seins“ unmöglich verifizierbar. Das gilt genauso für die historischen Wurzeln des Christentums. Waren es die Gottessohnschaft und Auferstehung Jesu? Die biblischen Berichte helfen uns nicht dabei, die Auferstehung zu „beweisen“ – sie bleiben immer Berichte aus zweiter Hand, die vielleicht als Indiz, doch nie als endgültiger Beweis herhalten können.
Der Glaube ist nicht beweisbar – und, so möchte ich meinen – er darf es auch nicht sein. Denn was ist das Wort vom Kreuz, wenn nicht eine Torheit? Wenn jemand käme und den christlichen Glauben an Jesus Christus als den Sohn Gottes historisch beweisen würde, wäre der Glaube keine Torheit mehr, und auch keine Gotteskraft, sondern ein Produkt der historischen Wissenschaft.
Das, was Søren Kierkegaard den „Sprung des Glaubens“ nannte, ist das Überspringen dieses lessing’schen Grabens. Aber nicht etwa durch Unfehlbarkeitsdogmen, sondern durch den Glauben selbst. Man könnte auch etwas frommer formulieren: Über den garstigen Graben bringt uns keine erbaute Brücke, sondern Gott selbst muss uns hinübertragen.