Von Löwen und Lämmern
Viele Christen verstehen Gewaltverzicht als unbedingte Folge ihres Glaubens. So wanderten in der DRR viele christliche junge Männer als Kriegsdienstverweigerer ins Gefängnis oder ließen sich bei den Bausoldaten drangsalieren, statt den Dienst an der Waffe aufzunehmen. Die christliche Friedensbewegung wurzelt in der Bibel. Der „Kampfspruch“ der DDR-Friedensbewegung lautete „Schwerter zu Pflugscharen,“ angelehnt an einen Vers aus dem Prophetenbuch Micha. Das moderne Pendant zu dieser Überzeugung ist das „Gott will keinen Krieg“ von Margot Käßmann.
Eine einheitliche Position zur Frage nach Krieg und Gewalt lässt sich der Bibel jedoch nicht zuweisen. So wird zum Beispiel in Joel 4 die bekannte Verheißung aus dem Michabuch prägnant umgekehrt: „Schmiedet Schwerter aus euren Pflugscharen und Lanzen aus euren Winzermessern! Der Schwache soll sagen: Ich bin ein Kämpfer.“
Die alttestamentliche Geschichte des Menschen ist eine Geschichte voller Gewalt. Die Bücher des Alten Testaments sind gesäumt von Krieg, Mord und Gewalt, deren immanente moralische Beurteilung stark davon abhängt, aus welchem Grund sie ausgeübt wird. In der alttestamentlichen Talionsformel wird Gewalt als Mittel der ausgleichenden Gerechtigkeit explizit legitimiert.
Die Auflösung dieses Teufelskreises von Gewalt, die mit Gewalt beantwortet wird, ist Thema vieler eschatologischer Texte, wie zum Beispiel Micha 4 oder auch Jesaja 11,6–9, wo ein Ende der Gewalt für die gesamte Schöpfung in Aussicht gestellt wird:
Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. 7 Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder.
Diese Texte betrachten das Ende von Krieg und Gewalt jedoch immer als einen endzeitlichen Zustand und nicht als vom Menschen, sondern nur durch Gott selbst durchsetzbar.
Auch im Neuen Testament gibt es zahlreiche Texte, die die Notwendigkeit legitimer Gewalt annehmen: In Jesu Gleichnissen über das Gottesreich kommen zahlreiche Fälle von legitim gedeuteter Gewaltanwendung vor: Im Gleichnis von den anvertrauten Talenten fordert der König die Hinrichtung derer, die seine Herrschaft ablehnen; auch die bösen Weingärtner werden im gleichnamigen Gleichnis vom Herrn des Weinbergs umgebracht.
Genauso finden sich aber auch Texte, die einen Weg zur Gewaltfreiheit und sogar Feindesliebe aufzeigen. In der Bergpredigt preist Jesus die Gewaltlosen (Matthäus 5,9 und stellt der Talionsformel das Gebot der Feindesliebe gegenüber (Matthäus 5,38–44). Die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu verknüpft die alttestamentlich-eschatologische Hoffnung auf ein zukünftiges Ende von Leid und Gewalt mit einer gegenwärtigen Lebensweise, die den Kreislauf aufbricht und Gewalt nicht erwidert.
In diesem Zwischenraum von eschatologischer Hoffnung und bereits präsentem Gottesreich befindet sich auch heute noch die Kirche. Der Friede zwischen Löwe und Lamm ist auch für uns eine Vision, nach der wir uns sehnen, die uns auf Erden jedoch in ihrer Vollkommenheit verschlossen bleiben wird. Gewalt ist in unserer Welt unumgänglich und in unserer globalen Verantwortung als Hüter der Schöpfung sind wir aufgefordert, wenn nötig auch mit Gewalt für Gerechtigkeit zu kämpfen. Zugleich können wir uns dafür einsetzen, dass Gewalt nicht immerzu mit neuer Gewalt beantwortet wird, in der Hoffnung, dass darin jetzt schon ein Abglanz der zukünftigen Herrlichkeit sichtbar werden kann.