„Schmutzige Berliner Wäsche“ – Ein Diskussionsnachmittag zur Kanonizität des AT in Leipzig

Die intensiven Diskussionen, die in den letzten Wochen nicht nur auf theologiestudierende.de über die durch den Berliner Systematiker Notger Slenczka angeregte Entkanonisierung des Alten Testaments geführt wurden, zeigen, dass die Frage noch lange nicht erledigt ist. Zahlreiche Studierende in Berlin und anderswo haben ihr Interesse an einer öffentlichen Disputation kundgetan – oder zumindest ihr Interesse an einer Klärung, wie das denn nun aus christlich-theologischer Sicht ist mit dem Kanon.

Diesem Interesse wurde nun an der Leipziger Theologischen Fakultät nachgegangen, als am 13. Mai ein „Diskussionsvormittag“ im Hörsaal der Fakultät stattfand. Das Thema: Eine Verhältnisbestimmung von christlicher Theologie und dem Alten Testament. Die Diskussionspartner: Der Alttestamentler Andreas Schüle und Rochus Leonhardt, Professor für Systematische Theologie. Die Veranstaltung wurde angeregt und durchgeführt durch die Studierenden: Hanna Kuchenbuch, die Sprecherin des Fachschaftsrats, übernahm die Moderation.

Andreas Schüle kam in die Diskussion bewaffnet mit einem dreiseitigem Thesenpapier. Die Behauptung, das Alte Testament habe faktisch seinen Status als „kanonisch“ verloren, sei „an verschiedenen Stellen“ zu hören, jedoch nie belegt worden. „Die Beweislast steht aus,“ so Schüle. Wer Behauptungen aufstellt, ohne sie empirisch zu belegen, stehe „unter dem Verdacht, Ideologie zu betreiben.“ Eine christologische Deutung des Alten Testaments ist für Schüle bereits im Neuen Testament angelegt. „Entscheidend“ sei für die Frage von Schriftverständnis und christlicher Identität laut Schüle, „dass das Neue Testament sich selbst in den Deutungshorizont des Alten stellt.“ Die Position, das Alte Testament stehe als „rein partikulares„ Glaubenszeugnis der Universalität des neuen Testaments gegenüber, ist für Schüle schon aus bibelkundlicher Perspektive unhaltbar: „Das scheint mir kein Argument zu sein, dass man jenseits des 4. Semesters überhaupt noch vorlegen könnte.“ Vorsicht forderte Schüle jedoch bei Vorwürfen des Antijudaismus: Dies sei „ein Killer-Argument, dass vorsichtig verwendet werden sollte.“ Dass es uns als Christen jedoch zustehen sollte, das Alte Testament den Juden „zurückzugeben,“ sei „in Form und Inhalt tatsächlich als antijudaistisch zu bezeichnen.“ Schüle beschloss sein Referat mit dem Hinweis, dass theologisches Denken nicht im luftleeren Raum stattfinde: Wer das Alte Testament kritisch betrachte, „tut dies unwillkürlich in einem Umfeld zunehmenden Anti-Judaismus, Anti-Islamismus und allgemeiner Vorbehalte gegen Fremdes.“ Deshalb gibt es für Schüle „keine Unschuld,“ wenn man sich nicht klar von radikalen Positionen abgrenzt. „Sonst,“ so Schüle, „gilt die Unschuldsvermutung nicht mehr.“

„So ist das, wenn theologische Disziplinen aufeinandertreffen“

Rochus Leonhardt begann sein Referat mit deutlicher Kritik am Umgang des Berliner Kollegiums mit der Slenczka-Debatte („Um den Namen jetzt auch mal zu erwähnen“). Es sei „Zeit, die Debatte zu versachlichen“ und sie „von der schmutzigen Berliner Wäsche“ zu trennen. Die Position des Berliner Kirchenhistorikers Christoph Markschies, dass Altes und Neues Testament „gleichermaßen Quelle und Norm“ der Kirche seien, hält Leonhardt für unsachgemäß. „Ein kurzer Blick in die Theologiegeschichte zeigt, dass eine solche Auffassung nie ernsthaft vertreten worden ist.“ In seinem Referat führte Leonhardt eine systematisch-theologische Einordnung der Thesen Notger Slenczkas durch. Die theologische Verhältnisbestimmung von NT und AT sei eine hochkomplexe Fragestellung, die in der Theologiegeschichte immer wieder bearbeitet wurde. Die historisch-kritische Exegese habe eine „Vielstimmigkeit innerhalb beider Kanonteile“ gezeigt. Dennoch sei offensichtlich, dass zwischen AT und NT „keine normative äquivalenz“ vorliege. Kritische Rückfragen an Slenzcka äußerte Leonhardt vor allem im Blick auf dessen problematischen Wortgebrauch, der „Aversionen“ wecke und „Slenzkas eigene Intentionen, das Judentum als eigenständige Religion wahrzunehmen,“ karikiere. Außerdem kritisierte er Slenczkas unscharfen Kanonbegriff, der „eigentlich gar nix“ erkläre. Leonhardt beschloss sein Referat mit der Bemerkung, dass Slenczka aus „systematischer Sicht, nicht aus exegetischer“ spreche. Beide Sichtweisen haben laut Leonhardt Stärken und Schwächen. Er habe die Hoffnung, dass diese „hoffentlich in einer dem Thema angemessenen Weise diskutiert werden“ können.

„Unterschiedliche Disziplinlogiken“

Auf die Impulsreferate folgte ein verbaler Schlagabtausch zwischen Schüle und Leonhardt. Schüle kritisierte erneut die Forderung, das Alte Testament aus dem christlichen Kanon zu streichen. In der Theologie Harnacks bleibe, nach Ausgliederung des AT, „nur noch ein Jesus übrig, der so Buddha-mäßig durch die Lande schwebt.“ Leonhardt wies diese Vorwürfe zurück. „In gegenwärtigen Debatten“ würden „nirgendwo“ solche Positionen vertreten. Es gebe „keine breite Fraktion in der evangelischen Theologie,“ die das AT ablehnt. „Es besteht die Tendenz, Pappkameraden aufzubauen,“ so Leonhardt.

Im Gespräch wurde bald klar, dass der Dialog zwischen den Disziplinen bitter notwendig ist. Im Laufe des Nachmittags zeichnete Leonhardt ein Schema des alt- und neutestamentlichen Kanons an die große Hörsaal-Tafel, dass durch Schüle und später noch durch den praktischen Theologen Alexander Deeg (der es auf seinem Platz nicht mehr aushalten konnte – ihm kam die Frage nach der kirchlichen Rezeption des AT zu kurz) leidenschaftlich durch kleine Kritzeleien ergänzt wurde. „So ist das, wenn theologische Disziplinen aufeinandertreffen,“ meinte Rochus Leonhardt ironisch. Es gebe in dieser Frage offenbar „unterschiedliche Disziplinlogiken.“


Unterm Strich war es nach Einschätzung vieler Anwesender ein hochproduktiver Nachmittag. Alle, sowohl die Studierenden als auch die Dozierenden, konnten viel lernen über die Sichtweisen der verschiedenen Disziplinen und über das christlich-theologische Kanonverständnis. Auch wenn keine einfachen Antworten auf die „Kanonfrage“ gefunden wurden, umgab die Diskussion gegen Ende hin ein wohltuender Geist interdisziplinärer Zusammenarbeit. Es bleibt zu hoffen, dass sich aus dieser positiven Erfahrung neue Räume für das Gespräch zwischen den theologischen Disziplinen und deren Professor_innen ergeben – in Leipzig und auch anderswo.